Die heimliche Lust
und diese Entfremdung von sich selbst und anderen nicht mitzumachen. Sie sind entschlossen, zu kriegen, was sie wollen, nicht, was man ihnen einreden will, zu wollen — mit anderen Worten, ihre innere Stimme nicht aufzugeben, die sie mit ihrer Sexualität verbindet. Tatsächlich interessiert sich Gilligan am meisten für diese Mädchen, die sie Widerständlerinnen nennt, weil sie die Vorstellung vom vorbildlichen Mädchen, das vorbildliche Beziehungen hat, verachten. Diese Mädchen lassen sich nicht kaufen, sagt sie; sie müßten in ihrem Mut und ihrem Widerstand unterstützt werden. Sie seien die Unbezähmbaren, Lebendigen, denen es gelingt, während ihrer ganzen Adoleszenz psychisch lebendig zu bleiben — auch wenn man sie deshalb »verdorben« nenne.
Viele der Frauen, mit denen ich sprach, waren inzwischen erwachsene Widerständlerinnen, Frauen, die es geschafft hatten, ihre ganze Jugend zu überstehen, ohne sich dem Idealbild des vorbildlichen Mädchens zu unterwerfen. Sie hatten vorehelichen Sex gehabt, zu einer Zeit, als dies nicht länger verteufelt wurde. Sie waren Frauen, die weder auf ihre Stimme noch ihre Authentizität, noch ihre Sexualität verzichtet hatten. Die meisten waren unter dem Einfluß neuer und offenkundig sexueller Ikonen wie Madonna und Cher aufgewachsen, Rollenvorbilder, die sie sowohl in ihrem Widerstand gegen das vorbildliche Mädchen wie auch in ihrer Bejahung sexueller Lust und in ihrer Suche danach unterstützten.
Diese Frauen sind Angehörige einer Kultur, die eher etwas in Auflösung begriffen als puritanisch streng wirkt, die Frauen von all der Tugendhaftigkeit befreit zu haben scheint, die Sex verbot und Stummheit verehrte. Es ist eine Kultur, die Modelle von offener Lustsuche und verbalem Freimut anbietet. Man könnte annehmen, daß diese sexuell versierten Frauen sich in ihrer Neigung bestärkt fühlen würden, ihren eigenen Weg zu gehen. Man sollte davon ausgehen, daß diese geradlinigen, befreiten Frauen anders an die Ehe herangehen würden als ihre Mütter und Großmütter.
Aber etwas Merkwürdiges ist auch mit ihnen an jener Wegscheide passiert, an der sich die Wünsche der Frauen und die Normen der Kultur nochmals kreuzen: Bei ihrer Heirat war die Verheißung einer idyllischen Beziehung und ewigen Glücks genauso faszinierend für sie wie eh und je. Die Verlockung, zur vorbildlichen Ehefrau zu werden, geborgen in den schützenden Wänden des Für-Immer, blieb einfach unwiderstehlich. Die Hochzeit scheint heute genauso wie früher selbst für die entschlossensten Rebellinnen der Augenblick der Kapitulation vor dieser antiquierten Moral zu sein.
4. »Ich dachte, durch Erfahrung würde ich glücklich werden«
Connie und ihre zwei besten Freundinnen saßen im Juli 1975 in einem Zug nach Boston. Die zwanzigjährigen Mädchen waren aus ihrer Heimatstadt Chicago aufgebrochen, um sich ein Wochenende lang dem Vergnügen in die Arme zu werfen.
»Der da«, flüsterte Pamela und deutete auf einen jungen Mann, der eine Gitarre umhängen hatte. Der hat einen knackigen Hintern, dachte Connie, als er an ihr vorüberging. Die drei Frauen sahen einander zustimmend an. Connie stand auf und folgte dem Mann in den nächsten Waggon. »Mach’s gut«, rief Meg ihr nach.
Zwei Stunden später kam Connie zurück.
»Na ?« wollten ihre Freundinnen wissen.
»Nun ja, es war halt... Eisenbahnsex«, antwortete sie. »Das Beste daran ist noch, daß ich mir von euch beiden nichts mehr über diese gräßliche Lücke in meinem Leben erzählen lassen muß. Meine Ausbildung ist jetzt abgeschlossen .«
»Wie stolz deine Eltern sein werden. Eisenbahnsex — und noch nicht einmal mit dem College fertig«, meinte Pamela.
»Sie hat noch keinen flotten Dreier gemacht«, erinnerte sie Meg.
»Und wird auch nicht«, versicherte Connie.
»Du mußt !« tönten die Mädchen unisono.
Am Ende dieses Sommers hatte sie auch das absolviert. Im Sommer 1980 war sich Connie, fünfundzwanzig Jahre alt und mit einem Jahrzehnt sexueller Experimente hinter sich, ziemlich sicher, alles getan zu haben, was man sexuell tun konnte und was nicht schlicht pervers war. Dreier, Analverkehr, Gruppensex und ständig wechselnde sexuelle Beziehungen hatten sie an das Ziel geführt, auf dem ihre Clique bestanden hatte: Sie hatte mit hundert Männern geschlafen, vollgedröhnt mit Drogen, in Flugzeugen, in betrunkenem Zustand, wenn sie Lust auf Sex hatte und wenn sie keine hatte. Sie erzählt mir, daß es in diesen Jahren zwischen
Weitere Kostenlose Bücher