Die heimliche Päpstin
verberge ich die Wahrheit in der dunkelsten Kammer meiner Seele: Vor langer Zeit mußte ich Alexandros wegschicken, bevor ein Dolch ihn traf. Nicht Theodora hat ihn verjagt, wie Marozia glaubt: Ich habe ihm die Flucht befohlen, um sein Leben zu retten. Es sind vierundzwanzig Jahre vergangen, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr habe ich gezählt.
Alles Schreckliche, was das Schicksal mir bisher beschert hat, konnte ich letztlich bejahen, doch seinen Tod hinzunehmen wäre ich nicht in der Lage. Die Angst, ich müßte den Fluß des Vergessens überqueren, ohne meinen Sohn wiedergesehen zu haben, schnürt mir die Kehle zu, läßt meine Hand nur noch zittrig schreiben. Nie darf mich diese Hoffnung verlassen – und mit ihr die Hoffnung, meine Heimat wiederzusehen: die Frühsonne über Konstantinopel, diese Woge rosigen Lichts, die sich über die erwachende Stadt ergießt, begleitet vom Gesang der Vögel, die in ihren Käfigen vor den Fenstern die Augen öffnen und sich nun gegenseitig von ihren Träumen erzählen, von der Sehnsucht nach einem grenzenlosen Himmel, in den sie sich schwingen können.
4
Ich weiß nicht, wie lange seit unserer Einkerkerung vergangen ist. In unserem Verlies gibt es keine Zeichen von Tag und Nacht, nicht einmal die Wärter kommen regelmäßig, so scheint es mir, um die Eimer auszutauschen und uns etwas zu essen zu bringen. Noch nie habe ich mich so wesenlos gefühlt, so im eigenen Dämmer gefangen, müde und trostlos. Marozia muß es ähnlich ergehen. Wir tigern durch unseren Kerker, stoßen aufeinander, fauchen uns an, gereizt und zugleich abgestumpft. Es gibt Momente, in denen wir nur noch schreien, um kurz darauf zusammenzubrechen. Dann sehen wir in der Entleibung den einzigen Ausweg: Wir könnten uns gemeinsam ein Messer in das Herz stoßen. Bereits beim nächsten Atemzug sprechen wir uns erneut Mut zu und versuchen, die Wut nicht gegen uns selbst zu richten, doch bald schon verursacht die lähmende Leere einen eisigen Schmerz. In diesem Zustand vermag ich mich nicht einmal aufzuraffen, mich über das Pergament zu beugen, das mir hilft, dieser nichtigen und zugleich bedrohlichen Gegenwart zu entfliehen.
Gestern kratzte ich wie eine Irre Buchstaben in die Wand: αταραξία – ataraxia. Ruhe des Gemüts. Trost und Seelenfrieden. Das Lächeln des Herzens. Alles ist gut, so wie es ist. Dein Körper umschließt dich wie ein Gefängnis, deine Seele indes kann niemand fassen und fesseln. Sie ist frei, mit dir hinaus ins Licht zu fliegen, zurück in das reiche Glück der Kindheit, nach vorne in den Morgen der Verheißung.
Leide und meide, ruft mir Epiktet zu.
Was soll ich meiden, rufe ich klagend zurück. Ich bin gemieden, bin abgesunken in den tiefsten Zustand der Meidung. Und dies nur, weil ich Marozia nicht verraten und allein lassen will.
Ich könnte frei sein, frei!
Dulde, mein Herz! Du hast eine härtere Kränkung erduldet, flüstert mir Odysseus ins Ohr.
Zehn Jahre Kampf um Troja, zehn Jahre irrfahrende Heimkehr! Und ich? Fast ein halbes Jahrhundert Leben als Sklavin in tiefster Erniedrigung und Trauer, doch auch in Luxus, Zufriedenheit und Augenblicken des Glücks.
Glück?
Das Wort klingt wie äußerster Hohn, betrachte ich die schwarzglänzenden Wände. Wir sind eingemauert wie Antigone – die Leidensgenossin. Vieles ist ungeheuer, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch. Hat jemand etwas Wahreres gesagt? Und steht nicht auch bei Sophokles geschrieben: Wen Gott verderben will, verblendet er zuvor. O kleine, altgewordene Mariuccia – ereilt dich jetzt der Fluch der bösen Tat?
Ich kratzte weiter, bis der Stein sich erweichen ließ: αταραξία . Die Buchstaben starrten mich an, stumm und für kommende Generationen geschaffen. Das Wort wird bleiben, bis diese Gewölbe unter dem Gewicht der toten Seelen zusammenbrechen und nichts außer einem Ruinenhaufen zurücklassen.
Trotz der düsteren Gedanken erfrischte anschließend tiefer Schlaf unsere Seelen. Zärtlich strich ich nach dem Aufwachen über die Buchstaben im Stein, und tatsächlich gab es heute nicht nur besseres Essen, sondern auch einen Krug Wein und einen zweiten Eimer zum Waschen. Dafür fiepen die Ratten verstärkt, und Marozia fiebert leicht. Auf der Kopfhaut juckt es, und nicht nur da. Doch nach dem Waschen und dem Genuß des Weins fühlten wir uns beide deutlich wohler.
»Hugo wird einen Weg finden, uns hier herauszuholen.« Marozia hatte es sich, soweit dies möglich war, auf ihrer Pritsche
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