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Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Titel: Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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Fenster, während die Landschaft an mir vorbeizog. Eben noch da und dann auch schon wieder weg. Alles verlief in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Alles. Gestern war ich noch im Haus der Jugend engtanzen, jetzt war ich plötzlich dreiundvierzig und hatte eine Tochter, die bald selbst engtanzen würde. Es gab keine Zeit zu verschwenden. Zeit war knapp. Man musste sie nutzen. Und während ein kleiner Ort, den ich nicht kannte und den ich nie wiedersehen würde, am Fenster des Intercitys vorbeirauschte, korrigierte ich meinen lahmen Vorsatz von vor ein paar Tagen: Ich würde Nägel mit Köpfen machen müssen. Eine kleine bockige Variation des Lesungsprogramms brachte nichts, das war Kleinkram, nichts, was wirklich etwas änderte. Ein grundlegender Reboot meines Lebens musste her. Ich befand mich in der zweiten Hälfte meines Lebens – ich würde sie nicht damit verschwenden, etwas zu tun, was mir keine Freude bereitete und woran ich nicht glaubte. Die Zeit der Inkonsequenz war vorbei!
    * * *
    Susann war stinksauer auf Berg gewesen. Bei der Lehrerkonferenz am Abend hatte er ernsthaft einen Schulverweis für den kleinen Jegor gefordert. Jegor war erst im Sommer an die Schule gekommen und hatte seitdem schon für einige Diskussionen gesorgt. Jegor galt als »verhaltensauffällig«. Da er in keiner von Susanns Klassen war, hatte sie ihn noch nicht selbst unterrichtet. Aber sie hatte die Geschichten gehört. Dass dieser Fünftklässler mit Kraftausdrücken nur so um sich warf, dass er offensichtlich intelligent, aber nicht zu motivieren war, dass er des Öfteren mitten im Unterricht aufstand und einfach hinaus auf den Schulhof ging, wo er sich dann auf den Boden oder eine Bank setzte und ins Leere starrte. Und dann war da noch die Geschichte mit dem Mädchen aus der Parallelklasse. Der hatte er in die Magengrube getreten. Sie hatte ihn provoziert, zugegebenermaßen, hatte ihn »behindert« genannt, aber Jegors Reaktion schien keine Wut gewesen zu sein, sondern eine kühl kalkulierte und unverhältnismäßig brutale Retourkutsche. Er hatte das Mädchen angeschaut, ohne erkennbare Gefühlsregung, hatte kein Wort gesagt und ihr dann, wie er es zweifelsohne in einem nicht für sein Alter geeigneten Film gesehen haben musste, ganz plötzlich mit einer Kung-Fu-artigen Drehung in den Bauch getreten. Das Mädchen hatte geschrien, war hingefallen, und Jegor war ohne ein Wort, ohne Triumph, Reue oder sonstige menschliche Gefühlsregung davongegangen.
    Susann hatte die Sandkastenepisode mit Jegor nicht vergessen und erinnerte sich nur allzu gut an die Silvesternacht, als sie den ausgekühlten, vernachlässigten Jungen zu seinen asozialen Eltern zurückgebracht hatten. Es war kein Wunder, dass Jegor so war, wie er war. Der Junge tat ihr leid.
    Bergs Mitleid allerdings hielt sich in Grenzen. Er verlangte, den Jungen von der Schule zu werfen, ihn auf eine »spezielle Schule« zu schicken, »wo solche Psychopathen hingehören«. Der Grund für Bergs drastische Forderung war in erster Linie gekränkte Eitelkeit, denn Jegor hatte ihn angespuckt. Mitten im Unterricht und vor den Augen aller, als Berg ihn aufgefordert hatte, die Tafel anzuschauen, anstatt unentwegt aus dem Fenster zu starren.
    »Der Junge ist eine tickende Zeitbombe«, hatte Berg gestern Abend gesagt. »Eiskalt! Ein richtiges Horrorkind! Ich weigere mich, diesen kleinen Irren weiter zu unterrichten.«
    »Er kommt aus einer sehr problematischen Familie«, hatte Susann das Kind in Schutz genommen. »Er braucht Anteilnahme und nicht noch jemanden, der ihn einfach zur Seite schiebt.«
    »Fein«, hatte Berg gesagt. »Dann nimm du den kleinen Scheißer. Meine Schüler und ich sind froh, wenn wir ihn los sind.«
    Susann hatte Berg wütend angefahren: »Das ist also deine Auffassung von Pädagogik?! Wenn auch nur das kleinste Problem auftaucht, die Verantwortung einfach weiterzureichen?!«
    »Ich kann sehr wohl mit Problemen umgehen, Kollegin«, hatte Berg zurückgeblafft. »Aber ich renne nicht mit blutendem Herzen herum und entschuldige die Taten von Schlägern und Psychopathen mit ihrer traurigen Familiengeschichte. So hat man schon Saddam Hussein zu erklären versucht. Aber erklären heißt nicht entschuldigen.«
    »Sag mal, spinnst du? Du vergleichst hier einen zehnjährigen Jungen mit einem Massenmörder!«, hatte Susann geschrien.
    Berg hatte sie kühl angeschaut.
    »Kollege Berg, das geht nun wirklich zu weit«, hatte sich der stellvertretende Rektor eingemischt.
    »Ja,

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