Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
entdeckt hätten? Hätten wir Kirschkernspucker ihn retten können? Oder hätten wir all unsere Kraft gebraucht, um uns selbst der Schwerkraft zu widersetzen?
Ich war – bemessen an der Tatsache, wie oft und ausgiebig ich mir selbst leidtat – vielleicht sogar der Schlimmste. Auch wenn ich die Gründe nicht greifen konnte, erging ich mich immer wieder in dem Gefühl, unter meinen Möglichkeiten zu bleiben. Das musste sich ändern. Und so fasste ich an diesem 4. Januar, dem Tag des Sternenstaubs, einen Entschluss: Ich hatte fortan nur noch dann das Recht, mich zu beklagen, wenn ich gleichzeitig versuchte, das, was mich in meinem Leben störte, zu ändern. Tatenloses Jammern war zukünftig verboten. Es war respektlos all denen gegenüber, die wirklich große Probleme hatten. Den Bernhards dieser Welt gegenüber. Ich war nicht Bernhard. Ich war Piet. Und Piets Probleme waren lösbar. Ich würde sie in Angriff nehmen und mein Leben selbst justieren, anstatt darauf zu warten, dass das Schicksal es für mich übernahm!
Bereits ein paar Tage später bekam ich die Möglichkeit, meinen wackeren Vorsatz in die Tat umzusetzen. Ich hatte eine Lesung, meine allererste Lesung, die im Rahmen der »Bad Harksdorfer Krimitage« stattfand. Ich war hocherfreut gewesen, als mein Verlag mir die Einladung weitergereicht hatte. Leute wollten ernsthaft Geld dafür bezahlen, dass ich ihnen vorlas. Meine Kirschkerne hatten sich so schlecht verkauft, dass nicht ein einziger Buchhändler auf die Idee gekommen war, den Autor dieses Flops zu einem öffentlichen Auftritt einzuladen. Doch mein erster Krimi (der zweite – Tod in der Vorstandsetage – würde in einigen Monaten erscheinen) war inzwischen in der vierten Auflage lieferbar. Ich hatte mir bereits eine kleine, feine Fangemeinde erobert. So klein, dass ich nicht in München, Berlin, Rio, Paris oder Tokio las, sondern im Kurhaus Bad Harksdorf, aber immerhin.
Um nach Bad Harksdorf zu kommen, fuhr man zuerst mit dem Zug zu einem Ort namens Bardensgmünd. Von dort aus musste man einen Bus nehmen, der quer über Land fuhr. Ich hatte eine relativ frühe Verbindung gewählt und kam nun in den Genuss, die Fahrt im Bus zwischen der kaugummikauenden und gackernden Dorfjugend zu verbringen, die offenbar gerade Schulschluss hatte.
Ich kauerte in der letzten Reihe, eingequetscht neben zwei etwa zwölfjährigen Mädchen, die laut »Veo Veo« sangen und dabei trotz der Enge des überfüllten Busses die Tanz-Gestik der Sängerinnen zu imitieren versuchten und mir im Überschwang ihrer Begeisterung mehrfach die Ellbogen und Hände auf Kopf und Schulter schlugen. Immerhin entschuldigten sie sich. Jedes Mal. Beim vierten Schlag und dem vierten mechanischen »Entschuldigung« sagte ich mit freundlichem Augenzwinkern: »Könnt ihr das bitte mal lassen, Mädels? Das tut nämlich weh-oh-weh-oh.«
Die Mädchen bedachten mich mit einem Halt-den-Mund-alter-Mann-Blick, der mir unmissverständlich zu verstehen gab, dass ich in ihrem Bus nichts zu melden hatte.
Eine gute halbe Stunde und diverse Schläge später stieg ich aus dem Bus. Ich sah sofort den Gasthof, der mir als Schlafstatt avisiert worden war: Zum Ochsen. Ich trat ein. Dunkle Eiche, der Geruch von Gulasch, und im Radio fragten gerade De Randfichten singenderweise, ob denn der alte Holzmichl noch lebt. Ja, hier in Bad Harksdorf lebte er ganz sicher noch! Vermutlich in dem schweren Eichenschrank in meinem Zimmer, über dem drei Geweihe hingen. Das würde das Erste sein, was ich morgen nach dem Aufwachen sah: Knochenskelette von sinnlos getöteten Tieren.
Zwei Stunden vor meiner Lesung traf ich mich mit Frau Lösler von der Buchhandlung im Kurgarten. Eine reizende, dralle Frau in den Fünfzigern, die die Krimitage organisierte und, wie ich schnell feststellte, wahrscheinlich problemlos selbst sachkundig in Leichen herumwühlen und Todesursachen feststellen könnte, so viel, wie sie über Gerichtsmedizin las. Wir saßen zusammen in der Wirtsstube, tranken einen Kaffee und sprachen gegen Yvonne Catterfeld aus dem Radio an.
»Ich finde Ihr Buch ganz toll«, sagte Frau Lösler. »Dieser Taxifahrer mit all seinen Marotten – köstlich. Wurden Sie da von Monk beeinflusst?«
Ich schaute sie fragend an. Der einzige Monk, den ich kannte, war Thelonious Monk, der große Jazzpianist. Doch den konnte sie schwerlich meinen. Mein Taxifahrer-Romanheld war weder schwarz, noch fuhr er ein Piano im Kofferraum herum.
»Die Fernsehserie?« Frau Lösler sah mich
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