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Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Titel: Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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erfunden!«
    Die Gäste lachten und klatschten.
    Bevor Serbien/Montenegro seinen folkloristischen Song vortrug, verkündete Anita: »Nach dem Zusammenbruch von Jugoslawien, erklärte Montenegro kurzerhand und ohne uns zu fragen die Deutsche Mark zu seiner Staatswährung.«
    Erstaunen, dann Applaus.
    Vor dem Discostampflied der Belgier rief Anita: »1877 wurde in Belgien eine Gesellschaft zur Steigerung der moralischen und geistigen Eigenschaften der Hauskatze gegründet.«
    Die Leute lachten. Anita strahlte. Ihr schien nicht bewusst zu sein, dass manche der Leute nicht mit ihr, sondern über sie lachten. Einige Gäste behandelten sie mit dieser gönnerhaften Freundlichkeit, die oft geistig Behinderten zuteilwird. Anita war ein Kuriosum, eine schrille Tussi.
    »Das hat Bernhard mir beigebracht«, erklärte sie mir. »Dinge über die Welt herauszufinden.«
    Für eine Weile tat mir Anita leid. Ich bedauerte sie, weil sie eine ewige Außenseiterin bleiben würde, und verspürte gegen meinen Willen einen Hauch von Fremdscham. Doch dann bemerkte ich, dass alle Fakten, die sie aufzählte, im Kern positiv waren. Oder zumindest neutral. Es war, als würde Anitas Gehirn sich weigern, die schlimmen Dinge der Welt zur Kenntnis zu nehmen. Mir wäre in meiner damaligen Gemütsverfassung zu Österreich eingefallen, dass dort Adolf Hitler geboren wurde. Zu Serbien/Montenegro hätte ich schockierende Massenmordfakten hervorgekramt, und das Erste, was mir zu Belgien einfiel, war die schreckliche Häufung pädophiler Gewalttaten sowie Vader Abraham und die Schlümpfe. Doch Anita dachte nicht an solche Greuel. Deshalb war Bernhard für sie auch kein schwerer Alkoholiker mit Realitätsverlust gewesen, sondern ein Mann mit wunderschönen Träumen, der zu viel trank.
    Für Anita war die Welt schön. Und deshalb war Anita schön.

    Würde man in einem Psychologiebuch nachschlagen, würde man verschiedene lateinische Ausdrücke finden, die auf Anita zutreffen. Ganz sicher wären einige davon als »Störung« deklariert. Doch wer legte diese Kategorien eigentlich fest? Ich hatte bei meiner Recherche zu Tod in der Vorstandsetage vieles über Investmentbanker und Hedgefondsmanager gelesen und war auf mehrere seriöse Studien gestoßen, die einen direkten Zusammenhang zwischen einer klinischen soziopathischen Persönlichkeitsstörung und Erfolg im Geldtransfergeschäft herstellten. Zwei der Studien kamen tatsächlich zu dem Fazit, dass Soziopathen – also Menschen, die chronisch selbstzentriert sind und nicht die Fähigkeit besitzen, sich in andere Menschen einzufühlen oder Mitleid zu empfinden –, dass diese Menschen also genauso gut Hedgefondsmanager wie Serienkiller werden konnten. Entscheidend sei im Wesentlichen der soziale Kontext. Auf gut Deutsch: Soziopathen, die in eine einflussreiche Millionärssippe hineingeboren werden, landen oft auf dem Titelbild des manager magazins. Würden dieselben Menschen aber in der chancenlosen Unterschicht aufwachsen, würden sie womöglich eher Tiere und Frauen aufschlitzen. Keine Ahnung, ob das stimmt.
    Anitas eigenwillige Persönlichkeit hatte mit solchen sozialen Störungen nichts gemein. Sie war seltsam, aber lieb. Sie schadete niemandem. Weder Frauen noch Kindern, noch dem internationalen Währungsgefüge. Man musste nur ständig auf alles gefasst sein.

    Sehr viel später, nach vielen Bieren, kuriosen Fakten und schlechter Musik, verabschiedeten wir uns. Wir tauschten Telefonnummern aus.
    »Ich helfe dir mit deinem Buch«, sagte Anita, »aber ich werde es nicht lesen. Bernhard ist keine Geschichte, und ich will ihn so erinnern, wie ich ihn kannte.«
    »Okay«, sagte ich.
    Anita umarmte mich noch einmal.
    »Wir sollten Silvester zusammen feiern«, sagte sie dann. »Wir feiern es genau so, wie Bernhard und ich es gefeiert haben.«
    Ich schaute sie erstaunt an. Und dann sagte ich: »Ja.«

    Silvester 2004
    T ja«, lächelte Sven. »Da sind wir Mädels dieses Jahr wohl unter uns.«
    Die anderen grinsten eher gequält. Die Stimmung war nicht gut. Piet feierte nicht mit, weil er in Wuppertal »für sein neues Buch recherchierte«. Susann hatte sich nicht beklagen, hatte Piet unterstützen wollen, doch so richtig hatte sie nicht begriffen, warum er ausgerechnet am Silvesterabend nach Wuppertal fahren musste. Diese Anita hätte ihm doch auch einfach erzählen können, wie sie Silvester mit Bernhard zu feiern pflegte. Das musste sie doch nicht mit ihm nachspielen. Überhaupt: Anita … Susann gestand es

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