Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
doch das tat sie nicht. Stattdessen schaufelte sie sich das Essen in atemberaubender Geschwindigkeit hinein, als wäre sie kurz vorm Verhungern gewesen.
Vielleicht hätte ich mir einfach kommentarlos und wie selbstverständlich ein Stück Lachs schnappen können, und sie hätte es völlig okay gefunden. Vielleicht hätte sie mir dann aber auch ihre Gabel in den Handrücken gerammt. Ich weiß es nicht. Anita ist nicht berechenbar.
So wie in dem Moment, als sie plötzlich aufsprang, »Scheiße! Das war ja heute!« rief, sich ihre Jacke von der Stuhllehne schnappte und aus dem Lokal rannte. Nach einer Schrecksekunde sprang ich ebenfalls auf, warf hastig einen Fünfzigeuroschein auf den Tisch und folgte ihr nach draußen.
Da stand sie, wippte nervös auf ihren Zehen wie ein Rennpferd kurz vorm Startsignal und sagte: »Da bist du ja endlich.«
Dann nahm sie meine Hand und lief los. Und ich lief mit, beziehungsweise ich ließ mich von ihr hinterherschleifen.
Sie rannte durch die Straßen, sagte kein Wort, schnaufte nur, weil sie unübersehbar nicht die Sportlichste war, und blieb schließlich vor einer Kneipe stehen. Funzel hieß der Laden. Eine relativ große Lokalität, in der sich, wie ich von außen durch die Scheibe erkennen konnte, viele Menschen drängten. Anita sagte »Komm« und öffnete die Tür.
Der Laden war rappelvoll, doch Anita schob sich problemlos durch die Menge. Ich nutzte die Schneise, die sie schuf, und huschte hinter ihr her. Viele der Gäste schienen sie zu kennen. Man nickte ihr zu, die Leute sagten hallo und hi, aber ich spürte keine Herzlichkeit. Man betrachtete sie mit einer spürbaren Distanz. Anita gehörte hier irgendwie dazu, ohne dazuzugehören.
An einem kleinen Stehtisch, um den mehrere Leute standen, hielt sie an. Sie begrüßte alle und umarmte die, die es sich gefallen ließen.
»Hallo, Anita«, sagte eine junge Bedienung. »Bier?«
Anita nickte strahlend. Dann zeigte sie auf mich: »Das ist Piet. Er hat ein Herz aus Gold, hat mein Freund Bernhard mal gesagt.«
»Hallo«, sagte die Bedienung.
Ich nickte verlegen, und die Bedienung zwinkerte mir zu. Ich weiß bis heute nicht genau, wie dieses Zwinkern gemeint war.
»Für mich auch ein Bier bitte«, sagte ich. »Und habt ihr vielleicht …«
Ich wollte nach einer Kleinigkeit zu essen fragen, da ich ja überraschend von meinem Zaziki-Schälchen fortgerissen worden war, doch in diesem Moment stieg der Lärmpegel in der Kneipe so stark an, dass ich mein eigenes Wort kaum noch verstand. Die Eurovisions-Hymne ertönte, und die Gäste lachten und applaudierten. Erst jetzt sah ich die drei Fernseher, die im Lokal verteilt waren. Auf ihnen flimmerte der Vorspann des Eurovision Song Contest, den ich alter Mann noch unter dem Namen Grand Prix Eurovision de la Chanson kannte. Deshalb waren wir also hier. Anita war ein Schlagerfan.
Es war ein unglaublicher Abend. Der ganze Laden feierte mit einer Mischung aus Begeisterung und Amüsement diese Parade musikalischen Mittelmaßes. Es wurde gejohlt, gelacht, gelästert und applaudiert. Und die Acts waren so bizarr bescheuert, dass ich oft laut auflachte. Bei dem französischen Sänger etwa hampelte die ganze Zeit eine Frau auf Stelzen auf der Bühne herum, und insgeheim hoffte ich, dass sie umfallen würde, damit wenigstens irgendetwas Interessantes während dieses Liedes geschah.
Als Max Mutzke auftrat, der deutsche Vertreter, versuchte ich herauszufinden, ob er brillante Stimmakrobatik betrieb oder tatsächlich nicht die Töne traf – was bei dem Trubel, der in der Funzel herrschte, gar nicht so einfach war. Doch in regelmäßigen Abständen wurde es ganz plötzlich still. Kurz bevor ein neuer Song begann und das jeweilige Land, das die Musiker entsandt hatte, in einem kurzen Videoclip vorgestellt wurde, schauten alle schweigend und erwartungsvoll zu Anita. Und Anita verkündete mit ihrer lauten Stimme einen bemerkenswerten Fakt über ebendieses Land. Es war offenbar Tradition, dass sie das tat, und alle waren darauf vorbereitet. Einige rollten zwar genervt mit den Augen, die meisten aber schienen es belustigend zu finden. Anita hatte sich nichts notiert, sie hatte alle Fakten im Kopf.
Kurz bevor der Schlagerfuzzi aus Österreich auftrat, rief sie zum Beispiel: »Im Jahre 802 hielt der Bischof von Salzburg sich während einer Predigt im Regen ein auf einen Holzstab gespanntes Tuch über den Kopf. Das gilt als die offizielle Erfindung des Regenschirms. Österreich hat den Regenschirm
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