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Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Titel: Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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geschehen sollte, was der Held tun müsste, um wirklich ans Ziel zu kommen. Anita hatte erzählt und erzählt, immer weiter. Die Leute hatten sie angepöbelt, und irgendwann wurde der Film angehalten, und Anita erhielt Hausverbot. Das hat mich fasziniert: einen Film korrigieren. Da muss man erst mal drauf kommen.
    Nicht, dass wir uns missverstehen: Ich war mir sehr wohl der Tatsache bewusst, dass Anita das hatte, was man eine psychische Störung nennt. Doch Anita war immer gut gelaunt, sie war voller Energie und Neugier und einer atemberaubenden Offenheit für alles und jeden. Sie war glücklich. Konnte es eine Störung sein, sein Glück gefunden zu haben?
    Und dann trat ich in die Ikea-Wohnung und wunderte mich über die Abwesenheit jeglicher Originalität. Ich betrachtete die Aldi-Chipstüten auf dem Tisch und hörte die Musik aus dem Radio: »Mad World« von Gary Jules. Das Lied, das in diesem Winter alle summten. Und Anita summte es auch. Ich fragte mich, ob ich Anita nicht doch romantisiert hatte, ob sie vielleicht doch weniger besonders war, als ich dachte.
    Ich hatte eine Flasche Sekt mitgebracht, die Anita in den Kühlschrank stellte.
    Dann fragte ich: »Okay, also, wie habt ihr Silvester gefeiert, Bernhard und du?«
    Anita lachte, klatschte in die Hände und rief: »In achtzig Gläsern um die Welt!« Sie stürmte in die Küche, kam mit einer Flasche billigem Korn und zwei Schnapsgläsern zurück und sagte: »Natürlich trinken wir nicht wirklich achtzig Gläser, sonst sterben wir an Alkoholvergiftung, aber wir tun so. Zehn oder zwanzig schaffen wir.« Sie setzte sich aufs Sofa, klopfte auf die Sitzfläche neben sich und schenkte zwei Schnäpse ein. »Wo beginnen wir mit unserer Weltreise?«, fragte sie strahlend.
    Ich setzte mich. Ich war fest entschlossen, das Spiel mitzuspielen. Es war Bernhards Spiel. »Äh … Japan?«, schlug ich vor.
    Anita klatschte erneut in die Hände, rief »Super!« und reichte mir das Schnapsglas.
    Wir stießen an und kippten das Zeug auf Ex runter. So musste es schmecken, wenn man mit einem Schlauch die Tankfüllung aus einem Auto saugt und herunterschluckt. Ich schüttelte mich, und Anita lachte.
    »Du gewöhnst dich dran«, sagte sie, rieb sich nachdenklich das Kinn und begann zu sprechen: »Also. Japan. Kyoto. Wir sind in Minami-ku, im Süden der Stadt.«
    Ich sah Anita erstaunt an. Woher kannte sie einen Stadtteil von Kyoto?
    Sie lächelte. »Bernhard hat viel erzählt, und ich habe ein gutes Gedächtnis.«
    Ich nickte und trank den zweiten Schnaps, den sie mir zwischenzeitlich eingeschenkt hatte. Ekelhaft! Ich schüttelte mich. Das Zeug breitete sich in meinem Schädel aus wie ein flüssiger Tumor.
    »Also«, fuhr sie fort. »Wir sind Touristen. Und wir haben uns in Minami-ku verlaufen. Das ist nämlich keine Touristengegend. Da geht man eigentlich nicht hin. Wir fallen auf. Die Leute mustern uns. Wir sind elegant und schön und beide einen Kopf größer als die meisten Japaner, und du bist natürlich noch ein Stückchen größer als ich, und die Leute tuscheln: ›Was für ein stattlicher Mann und was für eine schöne Frau‹, und wir gehen durch das Viertel und versuchen, den Weg zurück nach Higashiyama-ku zu finden, wo unser Hotel ist. Da entdecken wir plötzlich ein kleines Mädchen in einer Seitengasse. Das arme Kind kauert auf dem Boden und sieht verloren aus, und es weint, und wir gehen zu dem Kind und sagen …«
    »Wir können doch gar kein Japanisch«, wagte ich einzuwerfen.
    Darauf lachte Anita und sagte: »Selbstverständlich können wir das, Dummerchen! Das haben wir doch von unserer Köchin gelernt, erinnerst du dich nicht?«
    Ich grinste verlegen und kam mir irgendwie blöd vor, weil ich nicht gut mitgespielt hatte, weil ich das Spiel aber auch nicht richtig begriff und mich fragte, ob ich jetzt wirklich den ganzen Abend, die ganze Nacht, auf dem Sofa sitzen und mir Geschichten anhören würde und wo das alles hinführen sollte. Und da hielt mir Anita auch schon das nächste Schnapsglas hin, und ich schüttelte den Kopf, weil das Zeug wie Industrieabfall schmeckte und weil ich nicht die Gewohnheit habe, drei Schnäpse in fünfzehn Minuten zu trinken, nicht mal an Silvester, doch Anita schaute mich enttäuscht an, und ich dachte: Was soll’s, es ist Bernhards Ritual, und es gehört so. Also trank ich den Schnaps und für einen kurzen Moment musste ich würgen.
    Aber da fuhr Anita schon mit der Geschichte fort: »Und das kleine Mädchen sagt, sie sei eine

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