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Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Titel: Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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Jörn und Sven. Die waren nett, aber sie waren nicht ihre Mama. Und sie schienen ständig auf etwas zu warten. Peggy sollte offenbar irgendetwas tun. Sven und Jörn erwarteten etwas von ihr, aber sie wusste nicht, was. Und das machte ihr Angst, und es machte sie nervös, und sie fürchtete, man würde sie auch wegbringen, wenn sie das, was Sven und Jörn von ihr wollten, nicht tat. Sie sollte lächeln, das hatte sie schon kapiert. »Lächel doch mal«, sagte Sven manchmal, und Jörn machte Witze, die sie meistens nicht verstand, und dann wollte er auch, dass sie lächelte. Also lächelte Peggy manchmal. Aber das war noch nicht alles. Damit war sie noch nicht in Sicherheit. Sven und Jörn schienen noch mehr zu erwarten. Peggy gab sich viel Mühe, herauszufinden, was das sein konnte. Sie wollte alles tun, nur damit man sie nicht wieder wegbrachte. Wobei … Wenn man sie wegbrächte, würde man sie dann zu ihrer Mama bringen? Peggy vergaß langsam, wie ihre Mama aussah, und das fand sie schrecklich.
    Adrian, der neben den Mädchen am Küchentisch saß, langweilte sich. Er stand auf, öffnete den Küchenschrank, holte zwei Töpfe heraus und stellte sie vor sich auf den Boden. Dann nahm er einen dicken Pinsel aus dem Wasserglas und schlug auf die Töpfe, als wären sie ein Schlagzeug. Dabei schrie er laut. Es sollte wohl singen sein, aber es klang nicht so. Das Farbwasser spritzte durch die Küche, als Adrian mit dem Pinsel herumfuchtelte und trommelte. Jörn, der den Krach gehört hatte, kam herein und lachte, als er Adrian sah.
    War es das, was Jörn und Sven wollten? Sollte sie Quatsch machen und laut sein? Aber warum?
    Jörn wandte sich an Peggy und fragte: »Geht’s dir gut?«
    Peggy nickte und machte den Mund breit zu einem Lächeln, und diesmal ging es fast von selbst, weil es schön gewesen war, wie Nele sie in den Arm genommen hatte. Nele war nett.
    * * *
    Anitas Wohnung war klein und überraschend normal. Ich weiß nicht genau, was ich erwartet hatte, aber bei Anita war ich auf alles gefasst gewesen – nur nicht darauf, dass alles so normal war. Ich hatte mich darauf eingestellt, dass sie vielleicht ein ganzes Zimmer voller Sitzsäcke hatte oder dass sie ihre Wände selbst bemalt hatte mit märchenhaften, merkwürdigen Motiven, dass vielleicht die ganze Decke voll bunter Mobiles hing oder dass sie ihre ganze Wohnung nur in Blau- und Grüntönen eingerichtet hatte. Wo man hinschaute, nur Blau und Grün. Wie der Himmel und eine Welt voller Wiesen. Doch Anitas Zweizimmerwohnung in einem schnörkellosen dreistöckigen Wohnblock war mit den üblichen Ikea-Möbeln eingerichtet. Die Wände waren weiße Rauhfaser, und statt Sitzsäcken gab es ein Sofa. Ein ganz normales Ikea-Sofa. Ich fand das seltsam und irgendwie enttäuschend.
    Als ich ihre Wohnung betrat und Anita mich überschwenglich umarmte, überkam mich ein eigenartiges Gefühl, so, als wäre ich ein alter Freund, mit dem sie schon viel gemeinsam erlebt hatte. Es war das erste Mal, dass ich Silvester ohne Susann und Nele feierte, und ich fragte mich, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, das von mir selbst ins Leben gerufene Kirschkernspucker-Jahreswende-Ritual für eine Nacht mit Anita zu opfern. Doch ich wollte Bernhards Leben begreifen, seine Welt kennenlernen. Außerdem war ich von Anita fasziniert. Sie war so bedingungslos frei von Normen. Sie hatte mich mein ganzes Leben hinterfragen lassen. Lebte ich das Leben, das ich leben wollte? War ich glücklich? Oder war ich längst in Routine erstarrt? Hatte ich mich auf einen bequemen, aber nicht erfüllenden Mittelweg eingelassen? Scheute ich das Risiko? Würde ich, wenn ich eines Tages auf dem Sterbebett lag, zufrieden mit dem sein, was ich aus meiner Existenz gemacht hatte? Oder würde ich das Gefühl haben, feige gewesen zu sein, Chancen verpasst, zu klein gedacht und mich dem Diktat der Normalität gebeugt zu haben?
    Anita beugte sich diesem Diktat nicht. Ich hatte sie in der Schwebebahn tanzen sehen, zu unhörbarer Musik und völlig unbehelligt von den tadelnden, abfälligen oder spöttischen Blicken der anderen Fahrgäste. Ich hatte miterlebt, wie sie wildfremde Menschen ansprach, sie zu erkunden versuchte, ihre Geschichte hören wollte. Ich hatte mir berichten lassen, wie sie aus dem Kino geschmissen worden war, weil sie mit der Story des Films nicht zufrieden gewesen war und lautstark eine alternative Handlung angeboten hatte. Anita hatte mitten im Film zu rufen begonnen, was ihrer Meinung nach

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