Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
vor sich hin. Auch Petra und die Kinder waren nicht da. Das hatte Dille getroffen. Schließlich war es sein erster großer Lauf, er hatte hart dafür trainiert, doch Petra hatte gesagt: »Ich fahr doch nicht ganz bis in den Osten mit dem Lütten, nur um dich mal an irgendeiner Kreuzung vorbeistolpern zu sehen!«
»Aber ich hätte dich gern da«, hatte Dille geantwortet. »Als Ansporn.«
»Weißt du, wie oft wir dich in den letzten Monaten gern dagehabt hätten?«, hatte Petra gemotzt. »Aber du warst ja immer beschäftigt. Immer nur am Trainieren.«
Dille hatte sich geschlagen geben müssen. Sie hatte ja recht, irgendwie. Auch seine Laufkumpel waren nicht gekommen, um ihn anzufeuern. Das waren alles harte Hunde. Denen war diese Veranstaltung zu läppisch, die machten nichts unter einem zünftigen Triathlon. Dille hatte sogar Lucy und Florian überreden wollen zu kommen (»Dann macht ihr euch noch ein schönes Wochenende in Berlin, Party und so, hm?«), doch Lucy demonstrierte vor irgendeiner afrikanischen Botschaft gegen Beschneidungen, und Florian war mit diesem seltsamen Mitbewohner – Adolf – auf irgendeinem Rockfestival. Die Abwesenheit all seiner Lieben trübte das Vergnügen für Dille. Er fühlte sich einsam auf der Strecke.
Am Anfang zogen noch regelmäßig Läufer an ihm vorbei, doch seit mindestens einem Kilometer hatte ihn niemand mehr überholt. Dille musste so ziemlich das Schlusslicht bilden. Das überraschte ihn, denn er hatte eigentlich das Gefühl, schnell zu sein. Oder war er womöglich so gut, dass er die meisten anderen abgehängt hatte? Wäre das nicht ein wahnsinnig geiler Einstieg? Der erste Lauf und dann gleich aufs Siegertreppchen? Von dieser Vision angespornt, erhöhte Dille das Tempo sogar noch ein bisschen und lief erhobenen Kopfes weiter. Es war eine schöne Strecke, rechts irgendein Gewässer, links Bäume. Total friedlich. Seine Kumpel hatten recht gehabt: Idyllischer konnte ein Wettkampf kaum sein.
Nach ein paar Minuten kam Dille an eine Abzweigung. Er schaute nach links und nach rechts, doch nirgendwo stand einer der Freiwilligen, die ihm den richtigen Weg wiesen. Da war niemand, nicht einmal ein Schild. Was war das denn für eine Scheiße? Das kostete ihn doch wertvolle Sekunden, sich jetzt orientieren zu müssen. Dille lief unschlüssig auf der Stelle – »Immer in Bewegung bleiben!«, hatten seine Mentoren ihm eingebleut – und schaute sich um. Was nun? Er blickte zurück, von wo er gekommen war. Kein Läufer zu sehen. Fuck! Eine ältere Frau mit einem dicken Hund kam den Weg entlang, und Dille lief auf sie zu. Der Hund kläffte ihn an.
»Entschuldigung«, keuchte Dille. »Wo ist denn hier die Strecke? Wo geht’s weiter?«
Die Frau schaute ihn irritiert an.
»Der Marathon«, keuchte Dille. »Die Strecke? Wo lang?«
»Äh … Das ist doch am Schloss Cecilienhof, oder?«, wunderte sich die Frau. »Dieses Laufen. Das ist doch am Schloss?«
Dille starrte sie fassungslos an.
»Da haben Sie sich verlaufen, fürchte ich«, sagte die Frau.
»Was?!«, rief Dille. Wie sollte so etwas denn möglich sein?!
»Ich glaube, da müssen Sie zum Schloss Cecilienhof, und dann geht’s, glaube ich, zum Sanssouci. Da in der Nähe wohnt eine Freundin von mir, und die sagt, da laufen immer Leute unter ihrem Haus vorbei.«
»Fuck!«, ächzte Dille.
Hatte er den falschen Weg genommen, nachdem er vorhin kurz in dem kleinen Waldstückchen gepinkelt hatte? Seine Laufkumpel hatten ihm erzählt, man müsse bei einem Marathon nicht pinkeln. Das schwitze man alles aus. Aber Dilles Blase hatte das nicht beeindruckt, die drei Becher Frühstückskaffee wollten raus. Und nachdem er in der Baumgruppe gepinkelt hatte, musste er danach wohl den falschen Weg genommen haben. Wie unfassbar peinlich! Es würde nicht leicht sein, das wieder aufzuholen.
»Wo muss ich denn lang?!«, keuchte Dille, immer noch auf der Stelle laufend. »Den kleinen Weg da wieder zurück und dann?«
Die Frau überlegte einen qualvoll langen Moment und sagte dann: »Also, am besten, Sie nehmen den Bus.«
* * *
Susann hätte es nie offen zugegeben, aber sie bedauerte inzwischen, Jegor in ihre Klasse aufgenommen zu haben. Der Junge brachte eine unglaubliche Unruhe in die Gemeinschaft, bremste den Unterricht aus, weil er ständig ermahnt und gemaßregelt werden musste, und alle Versuche Susanns, ihn aus seinem Zustand der aggressiven Verweigerung zu locken, das gutzumachen, was seine Eltern angerichtet hatten, waren bislang
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