Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
etwas wie Familie. Wir feiern einfach alle zusammen. Die ganze Truppe. Das wird voll geil.«
Da Dilles und Petras Wohnung zu klein war, um noch mehr Leute aufzunehmen als sonst, stellten Piet und Susann ihr Wohnzimmer zur Verfügung. Und so saßen sie am Silvesterabend gemeinsam bei Susann und Piet am Tisch – die Kirschkernspucker, Peggy, Nele und Adrian.
Als es klingelte, öffnete Susann die Tür und ließ Lucy und Florian ein, die nicht nur eine Kiste Fair-Trade-Sekt mitbrachten, sondern auch ihren Mitbewohner Adolf, der etwas kleinlaut bemerkte: »Ich hoffe, ich störe nicht. Aber ich hab keine Familie. Jedenfalls nicht hier in Hamburg. Und, na ja, ich bin ja irgendwie der Patenonkel von Adrian, oder? Ich meine nicht offiziell, also, niemand hat gesagt, ich sei der Patenonkel oder so, aber ich hab ja bei der Geburt geholfen und so, und da dachte ich …«
»Komm rein«, unterbrach ihn die lachende Petra, die inzwischen dazugetreten war. »Schön, dass du da bist. Wie heißt du denn momentan?«
»Adze mit D«, sagte Adolf. »Spitzname. Verstehst du?«
»Ja«, lachte Petra. »Ist relativ kompliziert, aber ich glaube, ich habe es kapiert. Das ist ein sehr schöner Spitzname.«
Adze strahlte. Petra war sich nach wie vor nicht sicher, ob Adolf einfach nur ein Sonderling war oder ob er womöglich so etwas wie eine leichte geistige Behinderung hatte. Sie hatte ihn in jedem Fall gern. Adze war so atemberaubend freundlich und arglos, dass man ihn einfach mögen musste.
Es war ein urkomischer Abend. Zuerst. Alle waren entspannt und gelöst. Selbst Sven hatte die ganze Zeit über blendende Laune. In den letzten Monaten hatte er oft den Eindruck vermittelt, als wären ihm seine Freunde irgendwie unangenehm, als wäre er lieber woanders. Doch nicht heute. An diesem Abend wurde viel gelacht. Der Mann aus Ghana hatte offensichtlich recht gehabt mit seiner Theorie, dass es kein besseres Netzwerk gab als Familie und Freunde.
Dille wurde ausgiebig mit seinem missglückten Halbmarathon aufgezogen. Anfangs hatte er ernsthaft versucht zu erklären, wie es passieren konnte, dass er sich als vermutlich erster Mensch der Welt bei solch einem Wettkampf verlaufen hatte, fing aber irgendwann selbst an, über sich zu lachen. Und schon bald schmückte er den peinlichen Start seiner Sportlerkarriere aus – ganz nach dem Motto »Wenn schon, denn schon« –, so dass seine Erzählung einer gekonnten Stand-up-Comedy-Nummer glich. Er schilderte ausgiebig und überlebensgroß, wie er nach der Begegnung mit der Dame mit Hund den kompletten Weg bis zu seiner Pinkelstelle zurückgelaufen war, wie er dort tatsächlich nach einigen Umwegen auf die richtige Strecke zurückgefunden hatte, wie er all seine Kraftreserven mobilisiert hatte und noch einmal richtig durchgestartet war und wie er gen Ende sogar noch einen anderen Läufer überholt hatte. Okay, ja, der war über siebzig Jahre alt gewesen und hatte sich nur noch im Schritttempo dem Ziel (und so, wie Dille es schilderte, auch seinem baldigen Tod) entgegengeschleppt, aber Dille war dadurch immerhin Vorletzter geworden. Zuerst hatten die Veranstalter ihn disqualifiziert, weil er bei seiner Odyssee einen Kontrollpunkt umlaufen hatte. Aber als Dille dann wortreich erklärt hatte, was passiert war, hatten die Veranstalter sich dermaßen scheckig gelacht, dass sie ihn nicht nur nachträglich doch noch qualifizierten, sondern ihm ein paar Tage später sogar noch eine witzige »Sonderurkunde« zuschickten: Dilbert Kasinski, 1467 Platz beim Halbmarathon. Sieger des ersten inoffiziellen Potsdamer Orientierungslaufs.
Petra betrachtete Dille, während dieser sein Missgeschick zum Besten gab, und entdeckte den alten Dille wieder. Den frechen Typen mit dem bübischen Charme, der sich immer etwas mehr zutraute, als er bewältigen konnte, und eine nahezu panische Angst davor hatte, irgendetwas zu verpassen. Sie sah den Spaßvogel und erinnerte sich, warum sie sich in ihn verliebt hatte. Sie fragte sich, nicht zum ersten Mal, ob es nicht das einzig Vernünftige wäre, ihre Affäre mit Jörn zu beenden – einzig, dass das gar keine Affäre mehr war, sondern sehr viel mehr. Jörn drängte sie seit Wochen, endlich klare Verhältnisse zu schaffen. Er wollte mit ihr zusammen sein. Komplett, mit allem, was dazu gehörte. Doch Petra war hin- und hergerissen. Sie hatte immer gedacht, es wäre ein billiges Liebesromanklischee, dass man zwei Menschen gleichermaßen lieben kann – doch es ging. Sie liebte
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