Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
gescheitert. Susann ging langsam die Kraft aus.
Lehrer und Schulleiter konnten noch so oft beteuern, dass es nicht so wäre, aber irgendwann kam immer der Punkt, an dem ein Lehrer einen Schüler aufgab. Es kam der Moment, an dem man bestimmte Schüler einfach nur noch zum Kotzen fand und nicht mehr bereit war, Energie an sie zu verschwenden. Susann war bei Jegor kurz davor. Sie sträubte sich noch, wollte es nicht wahrhaben, zwang sich zu Engagement und Ansprache, aber tief in ihrem Innern wünschte sie sich, er würde einfach verschwinden.
Jegor war jetzt zwölf Jahre alt. Er hatte noch ein sehr kindliches Gesicht, niedlich fast, doch seine Augen waren seltsam stumpf, und seine ganze Erscheinung war von einer irritierenden Anspannung. Er sah immer so aus, als würde er gleich aufspringen, loslaufen, zuschlagen. Manchmal tat er das auch. Er trug meistens weite Jeans, die ihm in den Kniekehlen hingen, Designer-Turnschuhe und ständig wechselnde T- und Sweat-Shirts mit Hiphop-Aufdruck. Susann war sich sicher, dass er die Sachen klaute. Vielleicht zog er auch Mitschüler ab, beraubte sie ihres Kantinengeldes und ihrer Handys, die er dann irgendwelchen älteren Jungen verkaufte. Auf Jegors T-Shirts standen die Namen Sido, Bushido und Frauenarzt, und Susann hatte sich in einer ruhigen Stunde einmal an den Computer gesetzt und sich schlaugemacht, was genau das für Musiker waren. Sie war sich schon im Klaren darüber gewesen, dass es irgendwelche Rapmachos waren, die auf dicke Hose machten, aber als sie sich einige ihrer Songs anhörte und die Songtexte nachlas, war sie aufrichtig geschockt gewesen. Diese Typen waren Primaten, für die Frauen bloß Sexobjekte waren und die Gewalt und sogar Vergewaltigungen verherrlichten. Gleichzeitig waren ihre Vorstellungen von einer fast schon absurden Spießigkeit geprägt. Diese pöbelnden Hiphop-Hirnis wollten ein Heimchen am Herd haben, eine allseits willige Mixtur aus Sexpuppe und Kochmutti. Und war ihre Privatschlampe mal nicht willig, hatte sie sich gefälligst über die Arbeitsfläche der Küche zu beugen und schweigsam zu erdulden, wonach auch immer es diesen pöbelnden Schwachmaten gelüstete.
Na, reizend. Wenn man kleine Kinder mit so einem Scheißdreck fütterte, durfte man sich nicht wundern, wenn am Ende missglückte Menschen dabei herauskamen. Typen wie Bushido, dachte Susann, waren der Grund, warum sich Ausländerfeindlichkeit immer mehr breitmachte. Da konnten noch so viele engagierte Migranten versuchen, eine Brücke zwischen den Kulturen zu schlagen, und mit Preisen für ihre Integrationsbemühungen geehrt werden, am Ende waren es Kreaturen wie Bushido, die das Bild prägten. Immerhin würde so ein Kerl niemals einen Integrationspreis bekommen.
Was tat man als Lehrerin, wenn man ein Kind in seiner Klasse hatte, das sich über seinen vermutlich geklauten MP3-Player in der Pause Lieder über Analverkehr, Vergewaltigung und Massenschlägereien anhörte, zu Hause betrunkene Eltern sitzen hatte, die sich nicht um es kümmerten, sich von zuckertriefenden Energydrinks und Kartoffelchips ernährte und alles in allem eine tickende Zeitbombe war? Auch wenn Jegor in einem Alter war, in dem Sexualität gemeinhin noch keine übermäßig große Rolle spielte, erkannte sie bei ihm die Ausnahme von der Regel. Kollegen hatten Susann erzählt, dass in vielen Familien Pornofilme ganz selbstverständlich und im Beisein der Kinder über die Computer- und TV-Monitore im Wohnzimmer flimmerten, dass große Brüder und Schwestern Sex so bedenkenlos und ohne jede Einhaltung einer Privatsphäre betrieben wie Nahrungsaufnahme. Es gab Mädchen, die stolz darauf waren, einem Dutzend Jungen direkt nacheinander einen geblasen zu haben. Derartige Gangbang-Events waren so ziemlich das Einzige, womit sie jemals auftrumpfen konnten, das Einzige, worin sie gut waren. Ihre tragischen fünfzehn Minuten Ruhm. Es war eine Parallelwelt, die Menschen wie Susann nur vom Hörensagen kannten. Doch sie existierte. Und Jegor war ein Besucher aus dieser Welt. Susann hatte bemerkt, wie er den Mädchen und selbst ihr, der Lehrerin, viel zu unverhohlen, viel zu unverschämt auf die Brüste starrte. Eine Fünftklässlerin hatte einmal geweint und war völlig verstört gewesen, als sie von der Toilette gekommen war. Hinterher ging das Gerücht um, Jegor wäre auch in der Toilette gewesen und hätte sie begrabscht, doch aus dem Mädchen war nichts herauszuholen gewesen. Vielleicht war es wahr, vielleicht war es
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