Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
dummer Klatsch, Legendenbildung, eine Verleumdung. Das Mädchen wurde befragt, behauptete aber, da sei nichts gewesen auf der Toilette, und bestritt, überhaupt zu wissen, wer Jegor sei. Dabei wusste jeder an der Schule, wer Jegor war. Jeder wusste das!
Susann war kein Weichei. Sie unterrichtete seit Jahren an einer Haupt- und Realschule, die sich an einem sogenannten »sozialen Brennpunkt« befand. Sie hatte Erfahrung mit alltäglichem Rassismus, Gewalt und Mobbing. Jegor war ein besonders krasses Beispiel, ein extrem bedrohliches und gleichzeitig tragisches Kind. Doch er war nur die Spitze des Eisbergs. Rund ein Drittel ihrer Schüler, schätzte Susann, waren verhaltensauffällig und stammten aus Familien, die eigentlich eine Therapie brauchten. Es war eine bittere Welt, in der Susann Gutes zu tun versuchte. Aber irgendwann war auch mal gut mit gut.
Abends saß Susann mit Piet zusammen und schilderte ihm den neuesten Vorfall mit Jegor. Der Junge hatte in der Pause einen Jungen, der irgendetwas Abfälliges über ihn gesagt hatte, brutal zu Boden geschlagen. Die beiden Jungen hatten sich geprügelt, und Jegor war zwar ungemein aggressiv gewesen, aber auch einen Kopf kleiner als sein Kontrahent. Am Ende hatte Jegor keine Chance. Als der andere Junge ihm in den Magen schlug, erbrach sich Jegor mitten auf dem Schulhof. Die Schulsekretärin, die sich um Jegor gekümmert hatte, hatte eine Alkoholfahne an ihm bemerkt. Daraufhin hatte Susann Jegors Schulrucksack durchsucht und zwei Flaschen Alcopops gefunden. Jegor würde einen Schulverweis bekommen. Käme noch ein zweiter dazu, könnte man ihn von der Schule schmeißen.
»Ich weiß, es klingt widerlich, aber ich hoffe, der kleine Scheißkerl leistet sich möglichst schnell noch so einen Hammer. Dann sind wir ihn los«, sagte Susann.
Piet schaute sie nachdenklich an.
»Wenn du jetzt überlegst, vielleicht ein Buch über Jegor zu schreiben, fange ich an zu schreien«, sagte Susann halb im Spaß.
»Ich wundere mich nur über dich«, sagte Piet. »So radikal und unnachgiebig kenne ich dich gar nicht.«
»Ich mich ja auch nicht«, antwortete Susann seufzend. »Vielleicht kommt das mit dem Alter. Da lässt die Toleranz nach, der ganze Gutmensch-Kram kann sich immer schwerer gegen die Realität behaupten. Ich find’s ja auch furchtbar, aber ein paar Probleme sind einfach nicht zu lösen. Und ich will sie einfach nur aus meiner Welt haben. Dieser Junge ist nicht zu retten. Der ist kaputt. Ein für alle Mal. Der ist vorprogrammierter Knast.«
»Traurig«, sagte Piet.
»Ja«, stimmte Susann ihm zu.
Die beiden bemerkten nicht, dass Nele ihnen vom Flur aus die ganze Zeit zugehört hatte. Nele war wütend. So redete man nicht über Kinder! So redete man nicht über andere Menschen. Man konnte jeden Menschen retten. Das sah man doch an Peggy. Die wurde doch auch immer fröhlicher. Man musste nur lange genug nett zu jemandem sein, dann hörte er auf, traurig oder schwierig zu sein. Peggy redete inzwischen viel mehr und schaute sich auch nicht mehr die ganze Zeit ängstlich um, als ob die Welt voller Feinde wäre, die ihr an den Kragen wollten. Mit Peggy konnte man inzwischen richtig spielen. Die Welt war doch schön. Und das müsste man doch auch Jegor erklären können …
Silvester 2005
S o klein die letzte Silvesterfeier gewesen war, so groß war sie in diesem Jahr. Dilles und Petras Kinder hatten in ihrer Amnesty-International-Gruppe einen jungen Mann aus Ghana kennengelernt, der ihnen lang und breit erklärt hatte, was für eine große Rolle die Familie in afrikanischen Kulturen spiele. Familie sei dort ein Riesennetzwerk, die menschliche Version von dieser komischen neuen Internetseite namens Facebook, die irgend so ein Nerd in Amerika gerade gestartet hatte.
»Jeder in den Familien ist für jeden da«, hatte der afrikanische Menschenrechtler Lucy und Florian erklärt. »Da hab ich mich hier in Deutschland immer noch nicht dran gewöhnt, dass die Leute hier ständig vergessen, wie wichtig Familie ist.«
Lucy und Florian hatten sich das sehr zu Herzen genommen und fanden ganz plötzlich, sie brauchten auch etwas mehr afrikanischen Gemeinschaftssinn in ihrem Leben. Also hatten sie ihren verblüfften Eltern mitgeteilt, dass sie diese Jahreswende gerne mit ihnen feiern würden. Dille und Petra fanden das toll, wollten aber die Kirschkernspuckerbandentradition nicht brechen.
»Ach was«, hatte Lucy gesagt, »umso besser! Die Kirschkernspuckerbande ist doch auch so
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