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Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Titel: Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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Jörn, und sie liebte Dille.

    Lucy hatte ein Spiel namens »Erwischt!« mitgebracht, das aus kleinen Kärtchen bestand. Jeder bekam eine Karte, auf der drei Sachen standen, die er im Laufe des Abends so unauffällig und selbstverständlich wie möglich tun musste. Bestimmte Wunderlichkeiten, wie jemandem durch die Haare zu wuscheln, dreimal über verschiedene Talkshow-Moderatoren zu lästern oder exzessiv zu schielen. Wenn jemand in der Runde vermutete, dass das, was jemand tat, keine normale kleine Macke, sondern eine Aufgabe des Spiels war, musste er laut »Erwischt!« rufen. Für jede Aufgabe, die man erledigte, ohne erwischt zu werden, gab es einen Punkt. Jedes Mal, wenn man ertappt wurde, wurde ein Punkt abgezogen. Und wer unberechtigt »Erwischt!« rief, bekam ebenfalls einen Minuspunkt. Ein völlig idiotisches Spiel eigentlich, das aber ununterbrochen für Lacher sorgte. Nicht zuletzt, weil Adze alle zwei Minuten einen Spielzug witterte. Er hatte am Ende des Abends fünfzehn Minuspunkte.
    »Erwischt!«, rief Adze zum Beispiel, als Sven nieste.
    »Blödsinn!«, sagte Sven. »Ich hab einfach nur geniest. Ich kann gar nicht auf Kommando niesen. Niemand kann auf Kommando niesen.«
    »Ich schon«, sagte Adze und sagte: »Hatschi.«
    Alle lachten.
    Piet beobachtete, wie Lucy aufstand, sich zu der kleinen Peggy setzte und mit ihr sprach. Er war neugierig, was die wilde Szenen-Lucy dem kleinen Mädchen zu erzählen hatte, und lauschte. Lucy war jede Form von verbalem Output zuzutrauen. Es war durchaus denkbar, dass sie dem kleinen Mädchen eine erste Aufklärungsstunde gab, dass sie ihr erklärte, wie man einen Molotowcocktail baute, oder ihr den Inhalt des neuen Tarantino-Films erzählte. Doch Lucy sprach gar nicht. Sie hörte zu. Und Peggy erzählte. Das war mehr als ungewöhnlich, denn wir alle kannten Peggy als extrem schweigsam und zurückgezogen. Bei Lucy aber schien diese Zurückhaltung nicht zu gelten. Peggy sprach zwar leise mit ihr, aber ausgiebig. Ich schnappte ein paar Fragmente auf: »… nachts manchmal träume, aber dann mache ich das Licht an, und ich weiß ja, dass Jörn nebenan …« und »… ganz doll gelacht, als SpongeBob bei der Fahrprüfung …« und »… kochen und backen, das macht Spaß. Wenn ich groß bin …«
    Piet fand es falsch, weiter zu lauschen, denn Peggys Zutrauen galt nicht ihm, sondern Lucy. Er wusste nicht, wie diese flippige junge Frau den Draht zu dem verängstigten Kind gefunden hatte. Lucy sah nicht aus wie die gute Fee, von der kleine, scheue Mädchen träumen. Sie sah eher aus wie eine knuffige Hexe: Sie hatte im Gesicht vier Piercings, trug mit Vorliebe zerrissene Kleidung und schminkte sich die Augenpartie mit so viel Schwarz, dass sie aussah, als hätte sie ihre obere Gesichtshälfte in einen Eimer feuchten Kohlenstaub getunkt. Lucy war auch keine ausgleichende Persönlichkeit, die mit viel Fingerspitzengefühl agierte. Sie ging stets mit dem Kopf durch die Wand und hatte Spaß daran zu provozieren. Neulich hatte sie erst wieder eine Anzeige kassiert, diesmal wegen »Volksverhetzung«, weil sie bei einer Demo ein T-Shirt mit der Aufschrift »Buck Fush« getragen hatte. Darunter war ein Hakenkreuz auf einer US-amerikanischen Flagge abgebildet gewesen. Aber vielleicht war es genau das, was Peggy gefiel: Lucy war ein offenkundig starker Mensch, der tat, was er für richtig hielt, und genug Selbstbewusstsein hatte, um keine faulen Kompromisse einzugehen. Diese Stärke beeindruckte das Kind vielleicht. Und Lucy war nicht nur tough, sie konnte auch echt süß sein. Jetzt kitzelte sie Peggy und machte alberne Grimassen. Peggy lachte so laut, dass alle erst erstaunt und schließlich erfreut zu ihr hinüberschauten.
    Dann klingelte es an der Tür.
    »Erwartet ihr noch jemanden?«, fragte Jörn.
    Piet schüttelte den Kopf und stand auf.
    Als er die Tür öffnete, fielen ihm fast die Augen aus dem Kopf. Da stand Anita!
    »Was machst du denn hier?«, stammelte er fassungslos.
    »Du hast mir doch geschrieben, ich solle weniger in meiner Traumwelt leben«, sagte Anita und trat einfach ein. »Also reise ich heute nicht mit achtzig Gläsern um die Welt. Das macht allein eh keinen Spaß.« Wie selbstverständlich ging sie ins Wohnzimmer und winkte der völlig perplexen Runde begeistert zu. »Hallo, ich bin Anita! Piets Freundin.«
    Nicht nur Susann fiel die Kinnlade herunter.

    Piet und Anita hatten einander im vergangenen Jahr immer mal wieder E-Mails geschrieben. Für Piet war das

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