Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
Antworten auf Anitas ziemlich kryptische Mails eher ein Akt der Höflichkeit und des Mitleids gewesen. Je öfter er von ihr las, desto deutlicher wurde ihm bewusst, wie unsagbar einsam sie war. Und dass sie sich immer mehr in eine Traumwelt flüchtete. Piet hatte ihr in den letzten Mails schonend beizubringen versucht, dass sie so nicht weiterleben könne. Er konnte sich gar nicht mehr erklären, wie er noch vor kurzem so fasziniert von ihrer wirren Art gewesen war. Inzwischen fand er sie nur noch zutiefst tragisch. Anita aber hatte seine Worte offenbar sehr ernst genommen. Es war ihr wichtig, was er ihr zu sagen hatte. So bitter es war: Piet war ihr bester, ja, ihr einziger Freund auf der Welt. Der Mann, der zwischen Gibraltar und Sumatra in ihre Kloschüssel gekotzt hatte. Aus ihrer Sicht war es völlig logisch, dass sie nun hier war. Bei ihrem Freund.
Susann, der Piet einige der Mails gezeigt hatte und die ja über Anitas verrückte Welt informiert war, überwand ihren Schreck und begrüßte Anita auf die einzige Art, wie man Anita begrüßen sollte – sie umarmte sie und sagte: »Wie schön, dass du da bist. Ich hab schon so viel von dir gehört.«
Nachts um ein Uhr saßen die Kirschkernspucker auf dem Boden, tranken Wein und Sekt. Die Kinder schliefen in Susanns und Piets Bett. Lucy und Florian hatten beschlossen, dass man es auch übertreiben konnte mit dem Familiensinn, und sich zu einer Party im Schanzenviertel abgesetzt. Adze jedoch war geblieben. Er fühlte sich wahnsinnig wohl.
Während die Freunde gelöst und gut gelaunt den Beginn des neuen Jahres feierten, flimmerte im Hintergrund der Fernseher. Irgendeine Endlosschleife von Musikvideos der größten Hits des Jahres. Fettes Brot besang Emanuela, Juanes schmachtete auf Spanisch, und Tokio Hotel, diese irgendwie außerirdisch anmutenden Kinder, kämpften sich singenderweise »Durch den Monsun«.
»Die Monsunwinde wurden erstmals 120 vor Christi von dem Seefahrer Eudoxos aus Kyzikos erwähnt«, sagte Anita, die trotz beachtlichen Alkoholpegels immer noch die volle Kontrolle über ihr bemerkenswertes Gedächtnis hatte. »Ohne den Monsun wären weite Teile von Asien völlig unbewässert, und die Leute müssten verhungern. Andererseits sorgt der Monsun regelmäßig auch für riesige Überschwemmungen und vernichtet die komplette Ernte. Und dann müssen die Leute auch verhungern.«
»Wow«, staunte Adze, der Anita schon den ganzen Abend lang angehimmelt hatte, »was du alles weißt!«
»Das meiste hat mir Bernhard erzählt«, erklärte Anita.
Während Adze, der keine Ahnung hatte, wer Bernhard war, näher an Anita heranrückte und sie mit Dackelaugen anschaute, wurden die Kirschkernspucker nachdenklich. Die Erinnerung an Bernhard ließ sie alle innehalten. Bernhard war für einen Moment mitten unter ihnen im Raum. Ein stotternder kleiner Junge voll Angst und Brillanz. Bernhard – ihr alter Freund, der niemals ihr richtiger Freund werden konnte, weil er zu früh verschwand, sich ausklinkte, sich dem Leben nicht stellte.
Piet hob sein Sektglas. »Auf Bernhard!«, sagte er.
Die anderen hoben ebenfalls ihre Gläser und sagten: »Auf Bernhard!« und »Auf die Kirschkernspuckerbande!«
Piet erhob sich, schaute sich um, schaute lange Anita an, dann seine Freunde, dann Susann, die er anlächelte. Er war betrunken. Und er war in ziemlich pathetischer Stimmung. Er sagte: »Auf das Leben, das man nicht an sich vorbeiziehen lassen darf. Es ist zu kurz, um Dinge auf die lange Bank zu schieben. Auf dass wir alle immer den Mut haben, zu tun, was wir tun wollen!«
Es herrschte eine feierliche Stimmung. Eine Stimmung, die besonders Adze inspirierte. Der drehte sich nämlich plötzlich zu Anita um, nahm sie unbeholfen in den Arm und küsste sie auf den Mund. Die völlig überrumpelte Anita starrte Adze erst erschrocken an, dann machte sich ein rührendes, verlegenes Lächeln auf ihrem Gesicht breit. Sie wurde tatsächlich rot. Und Adze strahlte, als er ihre Hand nahm.
Es hätte ein schöner, wunderbar süßer Abschluss dieses Silvesterabends sein können, hätte sich nun nicht Jörn geräuspert und gesagt: »Ich habe auch etwas zu tun. Etwas, was ich schon viel zu lange aufgeschoben habe. Dille, es tut mir entsetzlich leid, aber ich liebe deine Frau.«
Alle lachten los. Typisch Jörn, mit seinem supertrockenen Humor.
Doch das Lachen erstarb, als Jörn keine Miene verzog, Dille weiterhin ernst ins Gesicht schaute und sagte: »Das ist kein Witz. Petra und ich,
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