Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
elektrischen Stuhl. Es war das wichtigste Requisit seines neuen Stückes, und Sven hatte bei den Bühnenbildnern darauf bestanden, dass es massiv gebaut wurde. Dass es ein schwerer, unzerstörbarer Gegenstand sei, seiner tödlichen Symbolik angemessen. Und dieses Requisit war tatsächlich nicht zu zerstören. Als Sven mit voller Wucht, schreiend und verzweifelt, gegen den Stuhl trat, hörte er erst ein kleines Knacken. Und dann setzte, mit dem Bruchteil einer Sekunde Verspätung, ein furchtbarer stechender Schmerz ein, der ihm fast die Sinne raubte. Er hatte sich den Fuß gebrochen. Er stürzte zu Boden, ihm wurde schwarz vor Augen, und eine plötzliche Übelkeit, einem Schlag in die Magengrube gleich, nahm ihm für ein paar Sekunden die Luft. Er versuchte aufzustehen, vergeblich, und fiel wieder zu Boden. Hilflos lag er da und konnte nur noch kriechen. Und dann brach er, als er die Absurdität der Situation begriff, in einen fast hysterischen Lachkrampf aus. Er lag auf der Bühne, zwischen den Symbolen der Macht und der Zerstörung, halb besinnungslos vor Schmerz – und lachte Tränen.
Er fingerte sein Handy aus der Brusttasche seines Mantels, und sein erster Reflex war, Jörn anzurufen.
Doch das war vorbei.
Sven wählte 112.
* * *
Ein Krankenwagen raste mit heulender Sirene unter Petras und Dilles Wohnungsfenster vorbei. Es war halb sieben Uhr morgens. Drei Stunden lang hatten sich die beiden angeschrien und beschimpft, geweint, sich vertragen, einander verlassen, wiedergefunden und dann wieder angeschrien. Nicht für eine Minute war es so sachlich und kultiviert zugegangen wie bei Sven und Jörn. So tickten Petra und Dille nicht. Bei ihnen flogen die Fetzen.
Gott sei Dank hatte der kleine Adrian einen gesegneten Schlaf. Er wachte nicht auf, während Petra und Dille einander ihre Wut und ihre Vorwürfe, ihre Traurigkeit und ihre verletzten Gefühle entgegenbrüllten.
»Wie konntest du nur?! Und dann auch noch mit einer Schwuchtel?!«, schrie Dille.
»Jörn ist mehr Mann, als du es je warst!«, schrie Petra zurück.
»Ach ja?! Ist er härter als ich und länger, und kann er zwei Stunden, weil er in Wirklichkeit lieber mit Brad Pitt in der Heia liegen würde als mit dir? Ist es das, was so geil ist? Dass du einen Schwulen bekehrt hast? Bin ich dir nicht spannend genug? Bin ich dir zu viel Routine? Der olle Normalo?«
»Red doch keinen Scheiß! Und mach dich nicht selbst so klein. Das ist erbärmlich!«
»Ich habe dich nie betrogen!«, schrie Dille.
»Du hast mich mit dir selbst betrogen. Du hast mich und die Kinder allein gelassen, weil du ständig ein Rendezvous mit dir selbst und mit deinen ganzen blöden Ideen und mit diesem Scheißkind in dir hattest!«, schrie Petra. »Du bist ein kleiner Junge, der nicht weiß, was es heißt, ein Ehemann und Vater zu sein!«
»Aber ich liebe dich!«, brüllte Dille, und Tränen schossen ihm in die Augen.
»Ich liebe dich auch, du Arschloch!«, kreischte Petra.
Petras Handy summte. Sie hatte es auf Vibrationsalarm gestellt, nachdem Jörn immer wieder bei ihr angerufen hatte. Sie konnte jetzt nicht mit ihm reden. Jetzt nicht. Das Mobiltelefon brummte ein paarmal, bevor wieder die Mailbox ansprang.
»Und du ziehst jetzt aus, oder wie?«, fragte Dille, der sich erstmals um einen ruhigeren Tonfall bemühte.
»Willst du das denn?«, fragte Petra.
»Ja! Nein!«, rief Dille und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. »Woher soll ich denn wissen, was ich will? Was willst denn du? Liebst du Jörn?«
»Ja.«
Dille schluckte. »Dann ist ja alles klar«, sagte er kühl.
»Aber ich liebe auch dich. Und unsere Familie«, sagte Petra.
»Und jetzt willst du so ’ne flotte Dreierbeziehung. Jeder darf mal mit dir, und wenn ich mich umdrehen lasse, darf ich auch mit Jörn, oder wie?«, zischte Dille.
»Es geht nicht nur um Sex«, sagte Petra.
»Na, worum denn sonst?«, schrie Dille. »Du hast mich ja wohl kaum mit Reden betrogen.«
»Doch«, sagte Petra. Und jetzt wurde sie ganz ruhig. »Genau das habe ich. Ich habe Jörn erzählen können, was du nie hören wolltest. Das war er, der wirkliche Ehebruch.«
Dille starrte sie an. »Und jetzt soll ich mich entschuldigen, oder was? Du fickst meinen besten Freund, und ich soll mich entschuldigen?!«
»Jörn ist nicht dein bester Freund«, sagte Petra. »Nicht mal ansatzweise. Eben hast du noch gesagt, er sei eine Schwuchtel.«
»Ja, ach … Mann, jetzt darf ich nicht mal mehr den Typen beleidigen, der meine Alte poppt,
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