Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
haben würde und ab dem ich immer wüsste, was zu tun sei. Dieser Punkt, dachte ich, wäre das, was man »erwachsen sein« nennt.
Lauter Irrtümer.
Ich wurde achtzehn, ich wurde zwanzig, ich wurde dreißig – aber der Durchblick stellte sich einfach nicht ein. Als ich mit vierzig die Arbeit an meinem Kirschkerne -Buch beendete, dachte ich, nun sei es endlich so weit. Ich dachte, der verwirrende Teil meines Lebens, der sehr viel mehr Fragen als Antworten parat gehabt hatte, wäre nun endgültig vorbei. Ich hatte immer geglaubt, dass ich mit vierzig zur Ruhe kommen würde, dass dann alles seinen Platz gefunden hätte, dass alles sortiert wäre. Ich war immer davon ausgegangen, dass das Leben dann zwar nicht mehr so spannend sein würde, nicht mehr so turbulent, nicht mehr so … ja, lebendig eben – dafür aber beruhigend überschaubar. Von da an alles Schrebergarten. Dachte ich. Doch das war ein Irrtum. Auch in den darauffolgenden Jahren haben ich und meine Kirschkernspuckerfreunde kaum eine ruhige Minute auf dem Klappstuhl des Lebens zwischen Begonien und Stiefmütterchen verbracht. Wir haben uns vielmehr nonstop durch ein Gestrüpp geschlagen, einen Urwald nahezu, in dem hinter jeder Liane eine neue Abzweigung auf uns wartete. Und mit den Jahren verlängerte sich der Rattenschwanz von Konsequenzen, der an jeder Entscheidung, an jedem Scheideweg hing, an dem wir eine Richtung wählen mussten. Wir hatten Kinder, wir hatten unsere Berufe, finanzielle Verpflichtungen – haufenweise Dinge, die stets mitgedacht werden mussten. Spontan zu sein ging weniger denn je, jeder Schritt, den wir taten, erforderte Verantwortung.
Die Welt der Menschen zwischen dem vierzigsten und fünfzigsten Lebensjahr ist ein Schlachtfeld. Die Männer leiden wie die Tiere, wenn junge Frauen sie plötzlich siezen. Die Erkenntnis, dass nicht nur ihre Reaktionszeit immer langsamer wird, sondern auch ihr Stoffwechsel, frustriert sie. Sie kriegen Panik bei der Frage, ob das alles gewesen sein soll, und lassen sich deshalb zu emotionalen Amokläufen hinreißen. Sie starten womöglich irgendwo oder mit irgendwem neu durch, streifen ihr halbes Leben ab, denken, alles müsste anders werden, nur um dann festzustellen, dass sie immer noch sie selbst sind. Die einzige Veränderung besteht darin, dass sie verwirrt in einem anderen Wildwuchsschrebergarten herumstehen. Und die Frauen? Die heben ihre Brüste an und ärgern sich, dass sie danach wieder herunterplumpsen. Sie mustern skeptisch die an Spannkraft einbüßende Haut ihrer Oberarme, die wachsenden Bäuche und die schrumpfende Aufmerksamkeit ihrer Ehemänner, ihre immer gleichen Jobs, ihre Freunde, die sich von ihren Partnern trennen und dann mühsam entscheiden, wer welchen Freundeskreis übernehmen darf. Die Frauen betrachten ihre Kinder, die ihnen über den Kopf wachsen und sie in absehbarer Zeit nicht mehr brauchen werden.
Auch wir Kirschkernspucker litten. Jeder auf seine Art. Wir litten nicht nur unter der Häufung körperlicher Zipperlein, wir litten auch unter falschen Entscheidungen und verpassten Chancen, die wir als unwiederbringlich verloren akzeptieren mussten. Und wir litten auch am Zerfall unserer Freundschaft. Zu viel war passiert. Wir brauchten Abstand voneinander, Zeit für uns. Meine geliebten Silvesterabende starben aus, wir feierten alleine. Einladungen wurden seltener. Wir gingen uns zwar nicht komplett aus dem Weg, jeder sah jeden immer mal wieder, doch das feste Band, das uns so viele Jahre lang verbunden hatte, war porös geworden. Die komplizierte Petra-Jörn-Affäre war der Auslöser gewesen. Sie erschütterte all unsere Beziehungen, ließ uns unsere Leben hinterfragen und das Fundament unserer Existenzen überprüfen.
Auch Petra und Dille erholten sich nie vollständig von den Ereignissen. Sie gaben sich alle Mühe und blieben zusammen, denn sie können einfach nicht ohne einander. Doch ihr Verhalten änderte sich.
Für Dille war die Affäre ein Weckruf gewesen. Natürlich hatte Petras Ehebruch ihn sehr verletzt und kratzte mächtig an seinem Macho-Ego, aber er war kein so großer Holzkopf, wie wir dachten, und begriff, dass er auch Fehler gemacht hatte. Er nahm sich fest vor, Petra nicht mehr als Selbstverständlichkeit zu betrachten. Er begann ihr Blumen mitzubringen, was vielleicht nicht sehr originell, aber liebenswürdig war. Leider tat er es bald ständig. Exzessiv. Wenn man Vielfliegermeilen im Blumenladen sammeln könnte, hätte Dille binnen kürzester Zeit
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