Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)

Titel: Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
Vom Netzwerk:
böse war. Sie kannte ihn doch schon lange. Er war traurig, das wusste sie. Aber Nele war noch nicht alt genug, um zu begreifen, dass Traurigkeit etwas ist, was fast alle gefährlichen Menschen eint. Wer glücklich und zufrieden mit seinem Leben ist, schlägt nicht um sich.
    »Hallo«, sagte Jegor.
    Nele blieb einen Moment stehen, wartete, dass Jegor noch mehr sagte, aber als er es nicht tat, ging sie weiter. Da packte er sie! So wie Susann ihn am Arm gepackt hatte, so griff er nun nach Nele. Sie schrie erschrocken auf. Ein paar Passanten drehten sich um, dachten sich aber nichts dabei. Kinder schrien nun mal.
    Jegor ließ Nele wieder los und sagte hastig: »Komm, wir gehen zu McDonald’s. Ich lade dich ein.«
    »Ich kann nicht«, sagte Nele. »Meine Eltern warten. Und ich esse nicht bei McDonald’s. Die machen den Regenwald kaputt, sagt meine Mutter.«
    »Deine Mutter hat mir den Arm kaputt gemacht«, sagte Jegor.
    »Aber nicht mit Absicht«, versuchte Nele zu beschwichtigen.
    »Doch«, sagte Jegor. »Sie hasst mich.«
    »Tut sie nicht.«
    »Die Fotze hasst mich!«
    »Ich muss jetzt gehen«, sagte Nele und versuchte, sich an Jegor vorbeizuschieben.
    Er griff wieder nach ihrem Arm. »Weißt du noch, wie du mich Silvester gefunden hast?«
    Nele nickte eingeschüchtert.
    »Das war nett«, sagte Jegor.
    »Lass mich gehen«, bat Nele, deren Arm sich immer noch im festen Griff von Jegor befand.
    »Nur ein paar Pommes«, sagte Jegor. »Ein Date. Wie im Fernsehen. Ich zahle.«
    »Ich will nach Hause«, schluchzte Nele, die es nun endgültig mit der Angst zu tun bekam. »Bitte lass mich nach Hause gehen.«
    Und da drehte Jegor durch. Er fing an, wie wild herumzuschreien, während er Nele immer noch umklammerte und hin und her schüttelte. »Ich hab dir nichts getan!«, schrie er. »Deine Mutter-Fotze hat mir den Arm kaputt gemacht, und die Mädchen sagen, ich bin gruselig, aber ich habe nichts getan! Alle machen mich immer nur fertig! Und du jetzt auch! Und ich dachte, du …«
    In dem Moment kam der Mann aus dem Dönerladen angestürmt, packte Jegor und riss ihn von Nele fort.
    Jegor schrie, der Mann schrie, und Nele nutzte die Chance, um nach Hause zu laufen. Völlig aufgelöst klingelte sie an der Tür, ich ließ sie herein.
    »Jegor ist draußen!«, keuchte sie. »Er hat mir wehgetan!«
    Ich rannte aus dem Haus, auf Socken und in der Jogginghosen-Call-of-Duty-T-Shirt-Kombination, die ich zu tragen pflege, wenn ich zu Hause am Computer sitze und schreibe.
    Als ich auf die Straße trat, sah ich bereits die Menschentraube, die sich um den Mann aus dem Dönerladen und Jegor gebildet hatte. Während ich versuchte vorzudringen, hielt auch schon ein Polizeiwagen neben der Menschentraube. Zwei Beamte stiegen aus, sprachen mit dem Dönermann und mir, nahmen alles auf und wollten Jegor in den Polizeiwagen setzen und nach Hause bringen. Als der eine Polizist die hintere Tür öffnete und Jegor gerade in den Wagen schieben wollte, drehte sich dieser plötzlich um und spuckte dem Polizisten ins Gesicht. Der Polizist blieb erstaunlich ruhig. Vermutlich war er ganz andere Dinge gewöhnt. Er verfrachtete Jegor in den Wagen, dann fuhren sie davon.

    Am nächsten Tag kam Jegor nicht zur Schule. Am übernächsten auch nicht. Eine Woche später wurde es offiziell: Jegors Eltern war das Sorgerecht entzogen worden. Er war jetzt ein Pflegekind. So wie die kleine Peggy. Nur dass niemand einen dreizehnjährigen gestörten Jungen bei sich aufnahm. Susann erfuhr von der Sozialarbeiterin, dass Jegor in ein betreutes Wohnprojekt irgendwo im Ruhrpott kam.

    Erst vier Jahre später sahen wir Jegor wieder. Und zwar dort, wo wir ihn nie erwartet hätten …
    * * *
    Anita und Adze wurden ein Paar. Ein seltsames Paar. Die beiden waren so atemberaubend gutmütig, arglos und schrullig, dass man gar nicht anders konnte, als sie zu mögen. Wahrscheinlich wäre es sinnvoller gewesen, wenn jeder von ihnen einen Partner gefunden hätte, der mit beiden Beinen auf dem Boden stand, vernünftig war und für eine generelle Lebenstüchtigkeit gesorgt hätte. Andererseits: Welcher logische und vernünftige Mensch würde schon eine Liebesbeziehung mit Anita oder Adze haben wollen? Und überhaupt, das Wort »Liebesbeziehung« müsste für die beiden neu definiert werden. Ich glaube nicht, dass sie jemals Sex miteinander hatten. Anita hatte mir damals erzählt, dass sie Sex nicht mochte. Und da wir auf unserer volltrunkenen Odyssee um die Welt ein Kind gerettet haben,

Weitere Kostenlose Bücher