Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
diese Diskussion nicht führen, wenn die Gefahr bestand, dass Peggy sie mit anhörte.
Peggy huschte noch einmal in die Küche und kam kurz darauf mit einer Handvoll Kekse zurück. »Die hab ich meiner Mama gebacken«, erklärte sie Frau Zertl und ging dann aufgeregt in den Hausflur. Erst als sie schon fast die Treppe hinunter war, drehte sie sich noch einmal zu Jörn um und lächelte ihn an.
Jörn ging zum Küchenfenster und schaute hinaus, während Peggy und Frau Zertl das Haus verließen. Die beiden überquerten die Straße und stiegen in ein Auto. Peggys Mutter saß offenbar auf dem Beifahrersitz. Sie war nicht ausgestiegen, um ihre Tochter zu begrüßen. Jörn konnte sie nicht erkennen. Er hätte gern gesehen, wie sie aussah.
Der Wagen fuhr aus der Parklücke und verschwand am Ende der Straße um die Ecke. Jörn starrte noch eine ganze Weile auf die Kreuzung. Er fühlte sich elend.
Jörn schaute ständig auf die Uhr und hatte keine ruhige Minute, bis es fünf Stunden später endlich an der Tür klingelte. Er öffnete. Peggy kam auf ihn zugestürmt und fiel ihm in die Arme. Es war ein schönes Gefühl – bis Jörn merkte, dass Peggy weinte. Sie schluchzte herzzerreißend.
»He? Was ist denn, mein Schatz?«, fragte Jörn.
Peggy vergrub ihr Gesicht in Jörns Bauch. Sie zitterte am ganzen Körper.
»Peggy? Mäuschen? Was ist?« Als sie immer noch nicht antwortete, schaute Jörn fragend Frau Zertl an, die etwas ratlos im Treppenhaus stand.
Frau Zertl signalisierte Jörn mit einem Blick, dass sie erst sprechen könne, wenn Peggy nicht zuhörte.
»Peggy?«, fragte Jörn mit sanfter Stimme. Er versuchte, Peggy ein Stück von sich zu lockern, doch sie presste sich nur noch mehr an ihn.
»Ich rufe Sie nachher an«, sagte Jörn zu Frau Zertl.
»Peggy«, sagte die Sozialarbeiterin, »kannst du vielleicht kurz in dein Zimmer gehen, damit dein Pflegevater und ich …«
Peggy wimmerte und krallte sich regelrecht an Jörn fest.
»Sie braucht mich jetzt. Ich rufe Sie nachher an, wenn sie sich ein bisschen beruhigt hat«, sagte Jörn.
»Ich hab gleich Feierabend«, antwortete Frau Zertl zickig.
»Sicher können Sie ein Telefongespräch mit mir in Ihre Gleitzeit einrechnen«, konterte Jörn, während er sanft den Kopf des weinenden Kindes streichelte.
Frau Zertl, die es gewohnt war und es durchaus auch schätzte, dass ihr andere Leute als Bittsteller gegenübertraten, verzog das Gesicht. »Ich rufe Sie in einer Stunde an«, sagte sie kühl.
»Danke«, sagte Jörn.
»Auf Wiedersehen, Peggy«, sagte Frau Zertl und ging, ohne eine Reaktion abzuwarten.
Es dauerte zehn Minuten, bis Peggy von Jörn abließ. Doch auch danach gelang es Jörn nicht, ihr irgendetwas zu entlocken. Sie wollte einfach nicht erzählen, was passiert war. Sie schwieg. Gelegentlich schluchzte sie. Jörn gab es irgendwann auf, weiter nachzufragen. Er setzte sich mit ihr aufs Sofa, nahm sie in den Arm und hielt sie einfach. Stumm. Lange.
Irgendwann schaute Peggy zu ihm auf, flüsterte: »Ich hab dich lieb«, und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Peggy?«, fragte Jörn. »Komm. Sprich mit mir. Was ist los?«
Für einen Moment dachte Jörn, jetzt würde sie endlich erklären, was bei dem Treffen passiert war.
Doch dann sagte Peggy bloß: »Kann ich Bernd das Brot gucken?«
»Sicher«, seufzte Jörn und schaltete den Fernseher ein.
Frau Zertl rief nicht eine, sondern erst drei Stunden später an. Sie begann das Gespräch mit den Worten: »Nur ganz kurz. Ich hab nicht viel Zeit. Es ist spät.«
Jörn hatte verzweifelt auf diesen Anruf gewartet, und als er nun erfuhr, was mit Peggy und ihrer Mutter im Zoo geschehen war, war das unendlich schmerzhaft.
Die biestige Sozialarbeiterin schilderte ihm in kurzen, kühlen Worten Folgendes: Peggy war nervös ins Auto gestiegen. Da Peggys Mutter auf dem Beifahrersitz gesessen hatte und Frau Zertl gefahren war, hatte Peggy allein auf der Rückbank gesessen. Sie hatte zaghaft »Hallo« gesagt, und Peggys Mutter hatte nicht mehr als »Hallo« geantwortet. Sie hatte sich nicht zu Peggy umgedreht.
Peggys Mutter war hager und fahrig. Ihr bizarrer Selbstmordversuch mit dem Abflussreiniger hatte ihre Nerven leicht geschädigt, so dass ihre obere rechte Gesichtshälfte in kurzen Abständen zuckte. Leider wirkte dies nicht wie ein neckisches Zwinkern, sondern als wolle ihre Pupille aus der Augenhöhle springen.
Frau Zertl hatte versucht, das Eis zu brechen: »Hat Peggy nicht ein schönes Kleid an, Frau
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