Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
in den Zoo. Die Sozialarbeiterin hat gefragt, in welchem Umfeld sich Peggy besonders wohl fühlt, und ich habe ihr erzählt, wie sehr Peggy Tiere mag.«
Susann dachte, wie entsetzlich edel es von Jörn war, es der Rabenmutter so leichtzumachen.
»Vielleicht ist die Mutter ja immer noch … Ich glaube nicht, dass Peggy von dir wieder weg will. Sie liebt dich«, sagte Susann.
»Sie ist ihre Mutter«, flüsterte Sven. »Und sie war krank. Wenn es ihr jetzt wieder gut geht, dann ist es nur richtig, dass …«
Susann fasste es nicht. Jörn war so ein Gutmensch! Vermutlich hatte er ja recht, rein vernünftig und moralisch gesehen, aber warum unterdrückte und verleugnete er die Wut und die Trauer, die er zweifelsohne verspürte?
»Soll ich rüberkommen?«, fragte Susann. »Willst du reden?«
»Peggy und ich wollen Pizza backen. Und ich möchte lieber allein … mit Peggy sein.«
»Okay.«
»Tschüss, Susann.«
»Ruf an, wenn du etwas brauchst. Wenn etwas ist, ja?«
»Mach ich.«
»Alles wird gut, Jörn.«
»Ja.«
»Hast du … Weiß Sven Bescheid?«
»Ich hab ihm auf die Mailbox gesprochen. Er ist bei einem Theaterfestival in Shanghai. Goethe-Institut oder so. Zeitverschiebung. Er meldet sich bestimmt nachher.«
»Jörn …«, Susann zögerte. »Ich … Wir …«
»Tschüss, Susann.« Jörn legte auf.
Ich stand neben Susann. Als sie auflegte, sah sie mich traurig an.
»Wenn sie ihm Peggy wegnehmen, dann …«, sagte sie.
Ich unterbrach sie: »Niemand nimmt ihm Peggy weg. Diese Frau hat jahrelang im Müll gelebt und hat Abflussreiniger getrunken, und letztes Jahr hat sie versucht, sich vor die S-Bahn zu werfen …«
»Peggys Mama hat das gemacht?«, fragte Nele, die uns zugehört hatte.
»Sie ist sehr krank«, sagte Susann und nahm Nele, die am ganzen Körper zitterte, in den Arm.
»Aber Peggy kann doch nicht bei so einer Frau leben!«, rief Nele entsetzt.
»Es ist nur ein Besuch«, erklärte Susann. »Die Mutter möchte ihre Tochter sehen. Das ist alles. Keine große Sache. Mach dir keine Sorgen, ja?«
Nele schaute ihre Mutter skeptisch an. Susann war keine gute Lügnerin.
* * *
Sven saß im Frühstückssaal des Jin Mao Tower, eines Wolkenkratzerhotels im Herzen Shanghais. Ihm gegenüber am Tisch saß Marco, einer der Schauspieler seines Stückes, das er hier am Abend zuvor vor begeisterten Deutschen und chinesischen Germanistikstudenten aufgeführt hatte. Marco war fünfzehn Jahre jünger als er, und Sven war sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass es eine Mischung aus Bewunderung und ehrgeizigem Kalkül gewesen war, die Marco nach der Premierenfeier in sein Bett gelockt hatte. Das war okay. Sven war nicht auf der Suche nach einer Beziehung.
In dem riesigen Frühstücksraum gab es zwei Buffets, ein europäisches und ein asiatisches. Marco hatte sich an dem fremdländischen Angebot bedient.
Amüsiert hielt er ein dunkelgraues Ei hoch. »Das wird in Eselurin getränkt und tagelang in der Erde vergraben. Kein Scheiß«, sagte er. »Ist eine Spezialität, die sogar eine Menge Chinesen eklig finden.«
»Na denn, guten Appetit«, sagte Sven. Er holte sein Handy heraus und checkte seine Nachrichten, während Marco tatsächlich einen zaghaften Bissen von dem vollgepissten Ei nahm und angeekelt das Gesicht verzog.
Sven hörte Jörns Nachricht und erschrak. Er schaute auf die Uhr und rechnete im Kopf den Zeitunterschied durch. In etwa drei Stunden würde er Jörn anrufen können.
»Wow, ist das widerlich!«, lachte Marco und hielt inne, als er Svens entgleisten Gesichtsausdruck bemerkte. »Ist was?«
»Entschuldige«, sagte Sven und stand auf. »Wir sehen uns nachher, ja?«
Sven verließ den Frühstücksraum und hörte die Nachricht ein zweites Mal ab. Er war entsetzt. Und er fühlte ein unbändiges Mitleid für Jörn. Sven hatte nie einen Draht zu Peggy gehabt, tatsächlich hatte er sich irgendwann eingestanden, dass er mit Kindern generell nichts anfangen konnte. Aber er hatte nach wie vor Gefühle für Jörn. Er wusste, wie sehr die Gefahr, Peggy an ihre Mutter zurückgeben zu müssen, Jörn zerriss. Es war entsetzlich. Sven stiegen Tränen in die Augen, während er durch das prächtige Hotelfoyer ging. Er wusste nicht, ob es sein Mitleid mit Jörn war, das ihn weinen ließ, oder Mitleid mit sich selbst. Er vermisste Jörn und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie er seine Prioritäten so falsch hatte setzen können. Wie hatte er Jörn bloß gehen lassen können? Den einzigen Menschen, der ihn
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