Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
Lossberg? Es ist ihr Lieblingskleid, stimmt’s, Peggy?«
Peggys Mutter hatte sich daraufhin zu Peggy umgedreht, und Peggy hatte schüchtern genickt.
»Ja, hübsch«, sagte Peggys Mutter, drehte sich wieder um und starrte durch die Frontscheibe.
»Peggy macht gute Fortschritte in der Schule. Und sie lernt jetzt … was lernst du noch mal für ein Instrument, Peggy?«, versuchte Frau Zertl weiterhin die Sache zum Laufen zu bringen.
»Keyboard«, flüsterte Peggy. »So wie Nele.«
»Ist Nele deine Freundin?«, fragte Frau Zertl.
Peggy nickte stumm. Im Seitenspiegel konnte sie das Gesicht ihrer Mutter sehen. Sie sah das zuckende Auge ihrer Mutter. Es floss eine Träne heraus. Peggy wusste nicht, ob das von dem Zucken kam oder ob ihre Mama traurig war.
»Ich hab Flöte gespielt. Früher«, sagte Peggys Mutter. »Ich musste. In der Schule.«
»Wir spielen auch Flöte in der Schule«, sagte Peggy.
»Ja«, sagte Frau Lossberg, als hätte Peggy irgendetwas bestätigt, was sie schon geahnt hatte.
Frau Zertls Handy klingelte, den restlichen Weg telefonierte sie mit einer Kollegin über irgendeinen anderen Fall.
Als sie am Zoo ankamen, bat Frau Zertl Peggy, sich in der Schlange vor dem Kassenhäuschen anzustellen. Dann nahm sie Frau Lossberg am Arm und zog sie ein Stück zur Seite, außerhalb von Peggys Hörweite.
»Was ist los, Frau Lossberg? Warum reden Sie nicht mit ihr? Sie ist Ihre Tochter. Wollen Sie nicht wissen, wie es ihr geht? Wie sie ist? Was sie tut?«
Frau Lossberg schaute die Sozialarbeiterin lange an, dann sagte sie: »Ich erkenne sie nicht.«
»Es ist viel Zeit vergangen«, sagte Frau Zertl.
»Es ist, als hätte man sie ausgetauscht. Hat der Mann ihr die Haare gefärbt?«
»Nein.«
»Oder sie operiert?«
»Was?«
»Ihr Gesicht? Operiert?«
»Unsinn. Frau Lossberg …«
»Ich fühle mich nicht wohl. Ich möchte gehen.« Peggys Mutter tat ein paar Schritte in Richtung Parkplatz.
Frau Zertl hielt sie auf. »Das können Sie nicht machen, Frau Lossberg! Sie müssen mit ihr reden, sie neu kennenlernen. Es ist lange her. Und das Kind sehnt sich nach Ihnen.«
»Das Kind kennt mich nicht. Und ich kenne das Kind nicht.«
»Es weiß, dass Sie ihre Mutter sind. Sie hat Ihnen Kekse gebacken. Und ihr schönstes Kleid angezogen …«
Frau Zertl hätte Frau Lossberg gern gesagt, dass es ein göttliches Band zwischen Mutter und Kind gab, dass der Herrgott sie im Herzen zusammengeschweißt hat. Doch sie wusste, dass man so etwas nicht sagen durfte. Staat und Religion waren getrennt. Das hatte man ihr immer wieder eingebleut.
In diesem Moment schaute Peggy nervös zu den beiden Frauen herüber. Sie war fast am Kassenfenster angekommen und wusste nicht, was sie tun sollte. Frau Zertl ging zu ihr, zog Peggys Mutter mit sich. Mutter und Tochter standen ratlos nebeneinander.
Dann raffte sich Frau Lossberg auf. »Du hast Kekse gebacken?«
Peggy lächelte scheu. Sie griff in die Jackentasche und zog drei Kekse heraus. Sie hielt sie ihrer Mutter hin.
»Hast du die gar nicht eingepackt?«, fragte Frau Lossberg. »Das ist aber sehr unhygienisch.«
Peggy schaute ihre Mutter mit großen traurigen Augen an. Die hagere Frau nahm einen der Kekse aus Peggys Hand. Sie wischte ihn am Ärmel ihres Pullovers ab und nahm ihn dann in den Mund. Sie kaute. »Mit Kokos?«
Peggy nickte.
Frau Lossberg nickte ebenfalls. »Hab ich gleich erkannt.«
Nichts an ihrem Gesicht ließ vermuten, dass ihr der Keks schmeckte.
So ging es weiter. Frau Zertls Versuche, diese beiden schweigsamen Menschen aufeinander zuzubewegen, scheiterten. Peggys Mutter blockte alles ab, fühlte sich sichtlich unwohl und fragte die Sozialarbeiterin noch zweimal, was »dieser Mann« mit »dem Mädchen« gemacht habe. Irgendetwas stimme nicht. Irgendetwas sei falsch an ihr.
Bei Frau Lossberg war eine klinische Depression attestiert worden. Was ihre weitere Diagnose anging, stritten sich die Ärzte. Vier verschiedene Mediziner hatten bislang Gutachten über Peggys Mutter geschrieben. Einer hatte ihr eine »pathologische Selbstzentrierung/Borderline-Autismus« attestiert. Eine Ärztin dagegen meinte, »Anzeichen einer Schizophrenie« zu erkennen. Frau Zertl tendierte nach diesem Ausflug dazu, Letzteres ernsthaft zu erwägen. Sie würde noch einmal ein Gutachten einfordern, diesmal sollte die Frau gezielt auf Schizophrenie untersucht werden.
Während Frau Zertl über die Situation nachdachte und sich fragte, wie sie im Falle Lossberg weiter vorgehen
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