Die Henkerstochter und der K�nig der Bettler
zu hoch dosiert gewesen. Einmal hatte sich ein Mädchen eine Kuchengabel in die Brust gerammt und war verblutet; ein anderes Mal hatte eine Dirne fliehen können und war schließlich aus dem zweiten Stock gestürzt. Gott sei Dank war es Nacht gewesen, und er hatte den zerstörten Leib ungesehen bergen können. Ärgerlich, sehr ärgerlich …
DasAuge wandte sich ab.
Nun, das nächste Mal würde er die Wände mit Stoff auspolstern und die Dosis noch ein wenig mildern. Fehlte nur noch das Mädchen.
Glücklicherweise hatte er bereits eine Ahnung, wer es sein könnte. Warum war er darauf nicht schon früher gekommen?
In den folgenden zwei Tagen konnten Magdalena und Simon beobachten, wie gut die vermeintlich faule Bettlergilde organisiert war. Nathan hatte sich bereiterklärt, Paulus Mämminger von seinen Leuten bespitzeln zu lassen, allerdings unter der Bedingung, dass Simon sich weiter um die Kranken und Verletzten in den Katakomben kümmerte.
Mämmingers Haus lag in der breiten, gepflasterten Scherergasse, wo viele Patrizier ihre Paläste hatten. Es war ein ehrfurchtgebietendes Gebäude, über dem sich ein siebengeschossiger, teils mit Schießscharten versehener Turm erhob. Die Bettler beschatteten das Haus, indem sie die dicht befahrene Gasse entlanghumpelten oder auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinter einem Mistkarren lümmelten, bis sie irgendwann von den Bütteln vertrieben wurden. Auf diese Weise wechselten sich ein Dutzend von ihnen jeden Tag ab.
Dabei fiel Magdalena auf, dass es unter den Mitgliedern der Bruderschaft durchaus unterschiedliche Berufe gab. Da waren die Stabüler , die mit ihren zerlumpten Kindern um Almosen heischten, und die Klenkner , die auf Knien rutschten und den Passanten so vorgaukelten, einen Krüppel vor sich zu haben. Es gab die Fopper , die angeblich wahnsinnig waren, die Clamyrer , die sich als gestrandete Rompilger verkleideten, oder die Grantner , die so taten,als seien sie fallsüchtig, und zu diesem Zweck Seife benutzten, damit ihnen der Schaum vor den Mund trat. Alle hatten ihre Rollen wie Spielleute eingeübt und waren stolz darauf, wenn ihre Vorstellung ihnen wieder ein paar rostige Kreuzer eingebracht hatte. Manche von ihnen feilten wie besessen an Kleinigkeiten: dem richtigen Akzent eines weitgereisten Pilgers beispielsweise, einem besonders elenden Gesichtsausdruck oder einem Armstumpf, der in den schaurigsten Farben leuchtete. Besonders Ehrgeizige rieben sich die Unterarme mit dem Saft der Waldrebe ein, um Entzündungen und Blasen hervorzurufen und so Mitleid zu erregen.
Während sich Simon um die Kranken kümmerte, schlenderte Magdalena des Öfteren die Scherergasse entlang und beobachtete, wie sich die Bettler versteckte Zeichen gaben und sich in einer merkwürdigen Sprache unterhielten, die die Henkerstochter nicht verstand. Bettlerlatein hieß dieses Kauderwelsch, ein Mischmasch aus Deutsch, Jiddisch und unverständlichen Wortfetzen. Bislang hatte Magdalena nur gelernt, dass Bock wohl Hunger hieß, Behaime ein Dummkopf war und mit baldowern offenbar das Ausspähen des Patrizierhauses gemeint war. Wenn die Bettler Magdalena sahen, nickten sie ihr nur kurz zu und jammerten dann erneut auf die vorübergehenden Passanten ein, die sich mit einem Almosen von ihren Sünden loskauften, bevor sie angeekelt weiterhasteten.
Zunächst schien es, als würde all das Beobachten und Ausspähen zu nichts führen. Am ersten Tag verhielt sich Paulus Mämminger nicht weiter auffällig. Er ging mit seiner Frau und den bereits erwachsenen Kindern zur Kirche und suchte um die Mittagszeit eines der Badehäuser auf. Ansonsten hielt er sich in seinem Palast auf, so dass von ihmnichts weiter zu sehen war. Am zweiten Tag jedoch berichteten die Bettler, dass immer wieder andere Ratsherren den Patrizier aufsuchten. Hinter den Butzenglasscheiben des ersten Stocks war zu erkennen, wie die Händler heftig miteinander debattierten. Offenbar schienen sie sich über einen gewissen Punkt nicht einig. Zwar konnten die Bettler nichts verstehen, doch häufiges Kopfschütteln und wildes Gestikulieren waren deutlich genug.
Es war am frühen Abend dieses zweiten Tages, als die letzten Ratsherren den Regensburger Kämmerer verließen. Sie tuschelten auf der Straße miteinander, doch leider kamen weder der einbeinige Hans noch der als Bettelmönch verkleidete Bruder Paulus nahe genug heran, um etwas zu verstehen. Bald senkte sich die Nacht über die Stadt, schon schien es, als würde auch in den
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