Die Henkerstochter und der K�nig der Bettler
noch einmal umzuschauen, ließ Kuisl den Turm hinter sich und machte sich auf den Weg durch die Stadt. Aus den seltenen Briefen wusste er, dass Lisbeth gemeinsam mit ihrem Mann eine Badestube in der Nähe der Donau, direkt an der Stadtmauer, besaß. Als der Henker jetzt die breite gepflasterte Straße, die vom Tor wegführte, entlangmarschierte, war er sich plötzlich nicht mehr sicher, ob das als Wegbeschreibung reichen würde. ImGewimmel der vielen Menschen hatte er schon bald die Übersicht verloren. Vierstöckige Häuser ragten zu seiner Linken und Rechten auf und warfen ihre Schatten auf die verwinkelten Gassen, die in regelmäßigen Abständen von der Hauptstraße abzweigten. Manchmal neigten sich die Gebäude so dicht aneinander, dass fast kein Stückchen Himmel mehr zwischen ihnen frei blieb. Von fern hörte Kuisl die Glockenschläge unzähliger Kirchen. Es war sechs Uhr morgens, trotzdem waren auf der Hauptstraße mehr Leute unterwegs als in Schongau an einem Samstagmittag. Jakob Kuisl sah reich gekleidete Bürger, aber auch viele Arme, darunter Bettler und Kriegsinvalide, die an jeder zweiten Häuserecke ihre Hände für ein Almosen ausstreckten. Kläffende Hunde und zwei quiekende kleine Ferkel flitzten an seinen Beinen vorbei. Zu seiner Rechten tauchte nun eine gewaltige Kirche mit einem steinernen Portal auf, das mit Säulen, Bögen und Figuren verziert war, als wäre es der Eingang zu einem Schloss. Auf den breiten Stufen lungerten Tagelöhner und Habenichtse herum, die dem kommenden Tag entgegendämmerten. Kuisl beschloss, einen von ihnen nach dem Weg zu fragen.
»Die Badstubn vom Hofmann, hä?« Der junge Bursche grinste mit seinen zwei verbliebenen Zähnen, als Kuisl ihn mit seinem breiten Schongauer Dialekt ansprach. Er witterte leichte Beute. »Bist wohl nicht von hier? Keine Sorge, ich kann dich führen. Wird dich aber ein paar Kreuzer kosten.«
Der Henker nickte und drückte der lumpigen Gestalt ein paar fleckige Münzen in die Hand. Plötzlich griff er nach dem Handgelenk des Bettlers und verdrehte es, bis es leicht knackte. »Wenn du mich bescheißt oder abhaust«, flüsterte der Schongauer Scharfrichter, »wenn du mich in die Irre führst, deinen bewaffneten Kumpanen Bescheidgibst oder auch nur daran denkst – ich find dich, und dann brech ich dir den Hals. Verstanden?«
Der Bursche nickte ängstlich und beschloss, von seinen ursprünglichen Plänen abzusehen.
Gemeinsam ließen sie das steinerne Portal hinter sich und bogen an der nächsten großen Straße links ab. Wieder musste Jakob Kuisl staunen, wie viele Menschen in Regensburg um diese Zeit unterwegs waren. Alle schienen es eilig zu haben, als wäre der Tag hier kürzer als in Schongau. Der Henker hatte Mühe, dem Bettler vor ihm durch das Labyrinth der bevölkerten Gassen zu folgen. Mehrmals spürte er eine Hand an seiner Börse, doch es reichte jedes Mal ein strenger Blick oder ein gezielter Rempler, um die Taschendiebe eines Besseren zu belehren.
Schließlich schienen sie ihr Ziel erreicht zu haben. Die Gasse, in der sie sich befanden, war breiter als die vorherigen. Ein schmaler, trüber Bach, in dem Exkremente und tote Ratten schwammen, floss träge in der Mitte der Straße. Jakob Kuisl schnupperte. Es roch ätzend und faulig, ein Geruch, den der Henker nur zu gut kannte. An den an Stangen aufgehängten Lederfetzen, die wie Fahnen von Balkonen und Fenstern wehten, konnte er erkennen, dass er sich im Gerberviertel befand.
Der Bettler wies auf ein größeres Gebäude am Ende der linken Häuserreihe, dort, wo ein schmales Tor hinunter zur Donau führte. Das Haus sah schmucker aus als die übrigen, frisch verputzt und mit rot angestrichenem Fachwerk. Das Baderwappen, ein grüner Papagei auf goldenem Feld, hing als Blechfahne über dem Eingang und quietschte im Wind.
»Die Badstubn vom Hofmann«, murrte der Mann. »Wie versprochen, Knochenbrecher.« Er machte einen Buckelund streckte dem Henker die Zunge raus. Dann war er in einer kleinen Nebengasse verschwunden.
Als sich Jakob Kuisl dem Badehaus näherte, hatte er einmal mehr das untrügliche Gefühl, beobachtet zu werden, vermutlich von einem der Fenster gegenüber. Doch als er sich umblickte, konnte er hinter den mit Leder verhangenen Löchern nichts erkennen.
Verdammtes städtisches Gewimmel! Macht mich noch ganz narrisch!
Er klopfte gegen die stabile Holztür vor ihm, nur um festzustellen, dass sie bereits offen war. Knarzend schwang sie nach innen, dahinter herrschte
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