Die Henkerstochter und der K�nig der Bettler
dämmeriges Licht.
»Lisl!«, rief Kuisl in die Dunkelheit hinein. »Ich bin’s, der Jakob, dein Bruder! Bist zu Haus?«
Ein seltsames Gefühl von Heimweh durchströmte ihn, Erinnerungen aus Kindertagen, als er auf seine kleine Schwester aufgepasst hatte. So froh war Lisbeth gewesen, von Schongau wegzukommen, weg von dem Ort, wo sie immer nur die räudige Henkerstochter gewesen war, so wie jetzt Kuisls eigene Tochter Magdalena. Sie schien es tatsächlich geschafft zu haben. Und jetzt war sie todkrank und weit weg von zu Hause …
Jakob Kuisl stand in der Tür und spürte sein Herz pochen.
Vorsichtig betrat der Henker die Stube. Er brauchte einige Zeit, bis er seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatte. Ein gewaltiger Raum erstreckte sich schlauchartig bis zur gegenüberliegenden Hauswand. Auf den frisch gehobelten Holzbohlen waren duftende Binsen ausgestreut, von irgendwoher war das Tropfen von Wasser zu hören, stetig wie ein leises Klopfen.
Tock … Tock … Tock …
Jakob Kuisl ging langsam weiter. In regelmäßigen Abständenstanden links und rechts Bretterwände, die den Saal in einzelne Nischen unterteilten. Der Henker erkannte, dass in jeder von ihnen neben einer Bank eine große, grob behauene Holzwanne stand.
Im hintersten Zuber auf der linken Seite lag seine kleine Schwester, gemeinsam mit ihrem Ehemann.
Elisabeth Hofmann und ihr Mann Andreas hatten den Kopf zurückgelehnt und die Augen weit aufgerissen, so als verfolgten sie ein unsichtbares Schauspiel an der Decke. Für einen kurzen Augenblick dachte der Henker, das Ehepaar würde ein morgendliches Bad nehmen, doch dann bemerkte er, dass beide ihre Kleider noch anhatten. Lisbeths rechter Arm hing über den Wannenrand. Etwas tropfte schwer wie flüssiges Wachs von ihrem Zeigefinger zu Boden.
Tock … Tock … Tock …
Jakob Kuisl beugte sich über die Wanne und fuhr mit der Hand durch das lauwarme Wasser.
Es war tiefrot.
Der Henker sprang zurück, und die Nackenhaare stellten sich ihm auf. Seine kleine Schwester und ihr Mann badeten in ihrem eigenen Blut! Jetzt sah Kuisl auch den Schnitt an Lisbeths Kehle, der ihn wie ein zweiter Mund angrinste. Ihr schwarzes Haar schwamm wie ein verfilztes Netz im rot gefärbten Wasser. Bei Andreas Hofmann war der Schnitt so tief, dass er fast den Kopf vom Rumpf gesäbelt hatte.
»O Gott, Lisl!« Jakob Kuisl hielt den Kopf seiner kleinen Schwester und strich ihr durchs Haar. »Was hast g’macht? Was hast bloß g’macht?« Tränen stiegen ihm in die Augen, es waren die ersten Tränen seit Jahren. Er presste die Lippen aufeinander und weinte.
Warum war ich nicht eher da? Warum?
Das Gesicht seiner Schwester war kalkweiß. Er wiegte sieund strich ihr das Haar aus der Stirn, so wie er es früher immer gemacht hatte, wenn sie sich in Fieberkrämpfen in ihrem kleinen Kinderbettchen gewälzt hatte. Mit stockender tiefer Stimme fing er an, ein altes Kinderlied zu summen.
Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg, deine Mutter ist im …
Ein Geräusch ließ ihn innehalten.
Jakob Kuisl wandte sich um und sah einen Trupp von mindestens fünf Wachmännern leise die Badstube betreten. Zwei von ihnen hatten gespannte Armbrüste auf ihn gerichtet, ein weiterer Wächter kam mit gezogenem Schwert langsam auf ihn zu.
Es war der Hauptmann von heute Morgen.
Der Mann zwirbelte seinen Bart und lächelte Kuisl an, während er auf die beiden Leichen deutete.
»Sieht ganz so aus, als hättest du ein Problem, Bayer .«
»Doch nicht das ganze Johanniskraut! Herrgott, Mädel! Wo hast du deinen Kopf?«
Erschrocken fuhr Magdalena zusammen, als Martha Stechlins Stimme direkt neben ihrem Ohr ertönte. Die Henkerstochter war damit beschäftigt gewesen, mit einem Löffel Kräuter in einen Kochtopf zu geben. Magdalena wusste, dass es ungemein wichtig war, die genaue Menge der einzelnen Zutaten zu beachten, doch sie war mit ihren Gedanken weit weg gewesen. Als die Hebamme sie jetzt zusammenstauchte, konnte Magdalena beim besten Willen nicht mehr sagen, wie viel Johanniskraut sie bereits in den Kupferkessel über dem Feuer gelöffelt hatte. Eine grünliche, aromatisch riechende Flüssigkeit brodelte darin und machte sie mit ihrem eigenartigen Duft noch zerstreuter, als sie ohnehin schon war.
»Wieoft muss ich dir noch sagen: Halt dich an die Rezeptur!« Martha Stechlin riss ihr den Löffel aus der Hand und fing an, die restlichen Zutaten selbst in den Kessel zu rühren. »Beim Grünöl magst du noch Glück haben«,
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