Die Henkerstochter und der K�nig der Bettler
Fässern vollgestellt war. Der Venezianer hielt den Finger vor die Lippen und deutete nach unten. Magdalena hatte das Gefühl, dass er diesen Fluchtweg schon öfter benutzt hatte. Mit bebendem Herzen begann sie hinter Silvio die Sprossen nach unten zu steigen.
Gerade als sie den Hof erreicht hatten, tauchte oben auf dem Balkon der Mann im schwarzen Mantel auf.
Noch immer hatte ihr Verfolger die Kapuze ins Gesicht gezogen. Er lehnte an der Brüstung und starrte auf sie herunter wie ein Raubvogel auf seine Beute. Magdalena blieb keine Zeit, ihn näher zu mustern, denn im nächsten Augenblick kletterte der Mann die Leiter hinab, wobei er die letzten Meter mit ausgebreitetem schwarzen Mantel sprang. Als er sich am Boden zu ihnen umdrehte, schimmerte in seiner rechten Hand ein langes, schmales Rapier, mit dem er sich nun schnell wie ein Schatten näherte.
Die Henkerstochter schrie laut auf und sprang hinter einen Stapel aufgetürmter Kisten. Von dort aus beobachtete sie entsetzt, wie Silvio seinen eigenen Degen zog und den Mann angriff. Der Fremde ging in eine lauernde Haltungund hielt das Rapier vor sich, bereit, jeden Moment zuzustoßen. Ohne das geringste Geräusch zu verursachen, sprang Silvio nach vorne und ließ seinen Degen kreisen. Doch der Mann wich geschickt aus; er machte einen schnellen Ausfallschritt zur Seite, stieß mit dem Rapier nach oben und ritzte dem Venezianer den samtenen Rockärmel auf.
Mit Entsetzen bemerkte Magdalena, dass aus dem Riss in Silvios Rock Blut tropfte. Außerdem schien der Venezianer leicht zu hinken. Nicht mehr lange, und der Fremde würde sich auf ihn stürzen und ihm das Rapier in die Brust rammen!
Und ich werde die Nächste sein …
Panisch sah Magdalena sich nach allen Seiten um. Ihr Blick fiel auf ein gewaltiges, fast mannsgroßes Weinfass. Sie lief darauf zu und stemmte sich dagegen. Tatsächlich schien es leer zu sein. Ächzend drückte Magdalena gegen die feuchten Dauben, bis das Fass für einen kurzen Moment auf der Kante stand, um schließlich unter ohrenbetäubendem Krachen umzustürzen. Einmal in Fahrt gekommen, rollte es auf den Fremden zu, der fluchend versuchte, zur Seite zu springen. Doch es war bereits zu spät. Das Fass überrollte ihn und zersprang an der gegenüberliegenden Wand in Holzsplitter und einzelne Dauben.
Der Fremde blieb einen Moment lang regungslos auf dem Boden liegen, dann rappelte er sich benommen auf und tastete nach seinem Rapier, das sich nicht weit von ihm entfernt befand. Noch bevor er wieder richtig zur Besinnung kam, hatte Silvio Magdalena am Arm gepackt und sie zu einer nahegelegenen Tür gezogen, die in eines der anliegenden Häuser führte. Er schob sie in den Hauseingang und drückte den Riegel zu. Auf der anderen Seite war wütendes Klopfen zu vernehmen.
»Grazie!« ,keuchte der Venezianer. »Das war knapp. Ihr hattet recht, wir wurden tatsächlich verfolgt.«
Sie rannten durch das Parterre und über die vordere Tür hinaus auf die Gasse, wo der tägliche Verkehr von Fuhrwerken, Droschken und plaudernden und lamentierenden Fußgängern gemächlich an ihnen vorüberzog. Es war, als hätten sie eine andere Welt betreten, die von der nur wenige Schritte entfernten Gefahr nicht die geringste Notiz nahm. Die meisten Menschen würdigten das ungleiche Paar nicht einmal eines Blickes.
An der nächsten Straßenecke lehnte sich Silvio gegen eine Hauswand und befühlte den Riss im rechten Ärmel seines Rocks. Nachdenklich blickte er auf das Blut auf seinem Finger, bevor er es schließlich ableckte.
»Santa Madonna!« , keuchte er. »Auf was habt Ihr Euch da nur eingelassen?«
Die Henkerstochter zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich leider selbst nicht. Ich kenne weder diesen Mann, noch weiß ich, warum er uns verfolgt hat. Vielleicht ist es derselbe, der gestern Nacht …« Sie brach ab.
»Was meint Ihr?«
Magdalena schüttelte den Kopf. Sie beschloss, dem Venezianer vorläufig nichts von ihrem Einbruch im Baderhaus zu erzählen. »Nichts. Ich fange wohl schon an, Gespenster zu sehen.«
Silvio tastete noch einmal den blutigen Riss an seinem Rock ab.
»Nun, wie auch immer. Es sieht jedenfalls ganz so aus, als bräuchte ich ein neues Gewand.« Er grinste und deutete auf Magdalena. »Und Ihr auch.«
Die Henkerstochter sah an sich hinunter. Sie hatte während des Kampfes auf dem Hinterhof Silvios Mantel verloren. Das grobe Leinenkleid darunter starrte vor Dreck,ihr Mieder war gesprenkelt von frischen Weinflecken. Sie sah aus, als
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