Die Henkerstochter und der schwarze M�nch
Rock von der Taille bis fast zum Kragen aufgeschlitzt hatte. Unter ihm stand Benedikta und starrte ihn mit offenem Mund an.
»Mein Gott, Simon! Was macht Ihr da?«
»Was wohl? Ich stürze mich zu Tode! Außerdem habe ich da drüben in den Bäumen einen Mann mit einer Armbrust gesehen, der uns beobachtet und ...«
»Simon, beruhigt Euch erst einmal! Versucht, neben Euch einen Halt zu finden.«
Benedikta deutete auf einen armdicken Ast, der im rechten Winkel von der Linde wegragte und einen stabilen Eindruck machte. Simon versuchte ihn zu erreichen, doch er kam um eine Handlänge nicht heran. Vorsichtig begann er zu schaukeln, der Ast kam näher und näher. Über ihm riss sein Rock ein Stück weiter ein. Endlich bekam er in letzter Sekunde den Ast zu fassen, bevor sich mit einem lauten Knall der Rock endgültig in zwei Hälften teilte. Simon spürte ein Rucken, er fiel eine Handbreit, dann klammerte er sich mit beiden Armen am Ast fest. Mit den Beinen in der Luft hing er da und wusste nicht mehr weiter.
In diesem Moment erblickte er genau vor sich auf Augenhöhe die goldene Tafel.
Sie war nur etwa handtellergroß, an den Rändern hatte sich bereits die Rinde wie eine wulstige Lippe darübergeschoben. Es sah aus, als hätte sich der Baum die Goldplatte in den letzten Jahrhunderten Stück für Stück einverleibt. Doch die Mitte der Tafel war noch gut zu erkennen, dort prangte ein ins Gold geprägter Spruch. Wind, Schnee, Regen und Hagel hatten ihm nichts anhaben können.
Immer noch am Ast hängend, murmelte Simon die eingravierten lateinischen Zeilen, während sich die Krähe wieder flatternd neben ihm niederließ und neugierig über seine Schulter äugte.
IN GREMIO MARIAE ERIS PRIMUS ET FELICIANUS. FRIDERICUS WILDERGRAUE ANNO DOMINI MCCCX XVIII.
Trotz seiner prekären Lage musste Simon lauthals lachen.
»Ha! Dieser verdammte Templer«, schrie er, so dass es im ganzen Wald zu hören war. »Der alte, schlaue Fuchs! Er hat die Botschaft tatsächlich hier versteckt! Ihr habt recht gehabt!«
»Was redet Ihr?« Benedikta reckte sich, um mehr erkennen zu können. »Was ist dort oben? Sprecht!«
Simon hörte zu lachen auf. Mittlerweile begannen seine Arme zu schmerzen, außerdem hatte er das Gefühl, dass wieunter der Folter große, schwere Steinbrocken an seinen Beinen zerrten.
»Eine goldene Platte, hier oben...«, ächzte er. »Von Friedrich Wildgraf ein Jahr vor seinem Tod. Dazu ein Spruch …« »Was für ein Spruch?«
»Verdammt! Lasst mich doch erst einmal von dort oben runterkommen!«
Benedikta grinste ihn an. »Was haltet Ihr davon, wenn Ihr Euch einfach fallen lasst?«
»Fallen lassen? Das sind mindestens zwölf Fuß!«
»Ach was, höchstens zehn. Was ist? Soll ich Euch etwa auffangen?«
Simon schloss die Augen und zählte langsam bis drei. Dann ließ er los.
Mit einem heiseren Schrei stürzte er strampelnd in einen weichen Schneehügel am Fuße der Linde. Der Aufprall war angenehm weich. Kurz hielt Simon inne, um zu überprüfen, ob etwas gebrochen war. Doch sämtliche Gliedmaßen schienen heil geblieben zu sein. Was man von seinem Rock nicht behaupten konnte.
»Verdammt, Benedikta! «, fluchte er, während er sich mit beiden Händen aus dem Schneehaufen befreite. »Wer hatte nur den vernagelten Einfall, auf so einen Baum hochzuklettern ohne ein einziges Seil? Ich hätte mir den Hals brechen können!«
Benedikta zuckte mit den Schultern. »Zumindest hat es etwas gebracht. Und nun erzählt! Was steht dort oben auf der Tafel?«
Gerade wollte Simon anfangen zu berichten, da fiel ihm plötzlich der Mann in der Tanne wieder ein. Mit einem verzweifelten Satz sprang der Medicus aus dem Schneehaufen.
»Wir müssen weg! Schnell!« Humpelnd und mit flatterndem Rock eilte er den Pfad entlang. »Dieser Mann im Baum war bewaffnet! Und bestimmt lauern noch andere hier im Wald. Wir müssen zum Kloster! Folgt mir!«
Benedikta seufzte, dann lief sie ihm nach.
Vierzig Fuß über ihnen sah ihnen der Fremde mit der Armbrust hinterher. Er formte die Hände zu einer Muschel und ahmte das Krächzen eines Eichelhähers nach.
Der Schreiber Johann Lechner saß in der Amtsstube und kaute an seinem Federkiel. Schon zum zweiten Mal war er die Rechnungen der Stadt durchgegangen, und auch diesmal war das Ergebnis verheerend. Die ständigen Überfälle in der letzten Zeit hatten den Handelsverkehr fast zum Erliegen gebracht. Alle Waren, die auf den großen Straßen von Augsburg über den Brenner oder über den Fernpass
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