Die Henkerstochter und der schwarze M�nch
alleine trieb Bruder Nathanael manchmal zur Weißglut. »Wer kann schon sagen, ob die beiden wirklich heute Nacht in dieKirche einbrechen?«, klagte der Schwabe. »Und selbst wenn sie’s tun, dann müssen wir uns ihnen morgen doch nur wieder anschließen! Also, was soll das?«
Nathanael ließ den Dolch durch seine Finger gleiten. Vom Zeigefinger zum Mittelfinger, zum Ringfinger und wieder zurück. Eine Übung, die er stundenlang betreiben konnte. Sie beruhigte ihn.
»Ich habe es dir schon mehrmals gesagt«, presste er hervor. »Wir dürfen sie nicht aus den Augen lassen! Die Sache ist zu wichtig. Und überhaupt, hättest du die Rätsel schon vor ihnen gelöst, könnten wir längst wieder in Augsburg sein!«
Bruder Avenarius blickte betreten zu Boden. »Ich gebe zu, ich habe den Medicus unterschätzt«, murmelte er. »Dass es sich bei den Worten primus und felicianus um die zwei Heiligen handelt, wer hätte das geahnt! Nun, wenigstens habe ich vor ihm herausgefunden, dass es sich bei der Inschrift um das Wessobrunner Gebet handelt.«
»Und? Was hat es uns gebracht?« Nathanael ließ den Dolch schneller zwischen den Fingern hin und her gleiten. »Das Buch war im Glockenturm ! Das ganze verdammte Kloster haben wir abgesucht!«
»Aber das konnte ich doch nicht wissen«, jammerte Bruder Avenarius.
Sein Weggefährte schickte einen Fluch gen Himmel und widmete sich weiter seinem Dolch. Währenddessen überlegte er, was sie falsch gemacht hatten. Die Dinge waren nicht so verlaufen wie geplant. Dabei hatte alles zunächst so einfach ausgesehen. Knapp zwei Wochen war es jetzt her, dass der Provinzmeister ihn und Bruder Jakobus zu sich gerufen hatte. Er hatte ihnen erzählt, dass der größte Schatz der Christenheit gefunden sei, und zwar nicht an einem fernen Ort, sondern ganz in der Nähe, ein Zeichen Gottes! Er war ein Auserwählter!
Niemals hätte er zu hoffen gewagt, dass der Herrgott ihnfür diese Aufgabe bestimmen würde. In diese Welt geworfen als dreckiges kleines Waisenkind, hatte Nathanael bei den Dominikanern in Salamanca eine Bleibe gefunden. Dort war man schon bald auf seine besonderen Fähigkeiten aufmerksam geworden. Nathanael war schlau und belesen, aber er hatte sich von seiner Zeit auf der Straße eine Zähigkeit und Geschicklichkeit bewahrt, die den anderen Mönchen fehlte. Bald war die Bruderschaft auf ihn zugekommen. Sie brauchten Leute wie ihn, schon oft hatten sie aus den Reihen der Dominikaner Glaubenskämpfer rekrutiert. Doch Nathanael war etwas Besonderes, eine Mischung aus Mönch und Krieger, so wie die Templer , die einst die größten Feinde der Bruderschaft gewesen waren. Es gab in den spanischen Provinzen viele Ungläubige, die es zu bekämpfen galt; und auch die Kirche brauchte ab und zu Leute, die die Drecksarbeit erledigten. Dafür war Nathanael zuständig.
Vor einigen Jahren nun war er nach Augsburg, in den deutschen Ordenssitz der Bruderschaft, abberufen worden. Seit das Deutsche Reich zu weiten Teilen den Lutheranern in die Hände gefallen war, waren viele Kirchenschätze und Reliquien von Plünderung und Schändung bedroht. Altäre und Schreine wurden eingeschmolzen, Statuen zertrümmert; in Konstanz hatten Ketzer sogar die Gebeine der Heiligen Konrad und Pelagius in den Rhein geworfen! Bruder Nathanaels Aufgabe war es, für die Bruderschaft diese bedrohten Schätze in den Schoß der Heiligen Römischen Kirche zurückzuführen. Eine Aufgabe, bei der neben Fingerspitzengefühl gelegentlich auch sein Dolch verlangt war.
Vor einigen Jahren hatte er dabei Bruder Jakobus kennengelernt, die rechte Hand des deutschen Provinzmeisters in Augsburg. Jakobus war ein eitler, aber überaus gläubiger Mann, der wie er selbst keine Kompromisse machte und nur ein Ziel kannte: die Verteidigung des rechten Glaubens. Gemeinsam hatten sie viele Heiligtümer der Kirche vor ihrerZerstörung bewahren können. Reliquien, Heiligenbilder, Marienstatuen …
Doch niemals hätte Nathanael gedacht, dass nach all den Jahren des Betens und Wartens sie die Auserwählten sein sollten, den größten Schatz der Christenheit zu bergen. Einen Schatz, den die Templer vor fast fünfhundert Jahren an sich gerissen hatten und der für immer verloren schien. Und dann war ihnen dieser verdammte Henker mit seiner Tochter dazwischengekommen. Die beiden Kuisls, und natürlich der neunmalkluge Medicus! Seitdem ging alles den Bach hinunter.
Neben ihm murmelte Bruder Avenarius weiter seine Gebete und umklammerte das Kreuz mit
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