Die Henkerstochter und der schwarze M�nch
den zwei Querbalken, das an seiner Brust hing und ihnen als Erkennungszeichen diente. Der feiste Schwabe schien sich damit abgefunden zu haben, noch ein paar Stunden im Schneetreiben zu stehen. Mit geschlossenen Augen rezitierte er das Gebet der Selbstbeherrschung aus der Heiligen Schrift.
» Wer setzt eine Wache vor meinen Mund, vor meine Lippen ein kunstvolles Siegel? Wer hält eine Peitsche bereit für mein Denken und eine Zuchtrute für mein Herz«?
Nathanael seufzte. Zunächst war es ihm durchaus passend erschienen, dass ihnen der schwäbische Mönch an die Seite gestellt wurde. Nach allem, was der Meister aus dem Brief des gutgläubigen Altenstadter Pfarrers erfahren hatte, hatten es ihnen die Templer nicht gerade leichtgemacht. Friedrich Wildgrafs ketzerischer Orden war bekannt für seine Chiffren und Rätsel. Und Bruder Avenarius galt als ausgezeichneter Kenner der Bibel, ein Bücherwurm, der auch noch die kleinsten Textstellen parat hatte und mit der Geschichte der Reliquien vertraut war wie kein Zweiter. Doch bislang war er ihrer Gemeinschaft keine große Hilfe gewesen, im Gegenteil. Nach Beendigung des Auftrags würde Nathanael dem Meister empfehlen, den Schwaben zu entfernen.
Aber noch brauchte er ihn.
Vor allem jetzt, da Bruder Jakobus nach Augsburg aufgebrochen war, um dem Meister Bericht zu erstatten und neues Gift zu besorgen. Zum wiederholten Mal fragte sich Nathanael, warum sein Mitbruder so schnell bereit gewesen war, die weite Reise auf sich zu nehmen. Vielleicht hatte es etwas mit den nässenden Ausschlägen zu tun, die ihn seit einigen Wochen quälten? Überhaupt hatte sich Jakobus in letzter Zeit doch sehr verändert. Diese plötzlichen Wutausbrüche, die erstickten Schmerzensschreie in der Nacht, das schütter werdende Haar ... Traurig, wenn ein einst tapferer Weggefährte sich so gehenließ. Aber am Ende war man doch immer allein.
Vorsichtig blickte Nathanael sich nach allen Seiten um. War dort ein Geräusch gewesen? Seit einigen Tagen beschlich ihn das dumpfe Gefühl, beobachtet zu werden. Nur, von wem? Gab es noch jemanden, der an dem Schatz interessiert war? Jemand, von dem sie bislang nichts wussten?
Ein kurzer, aber deutlich vernehmbarer Wutschrei riss ihn aus seinen Gedanken. Zwei Gestalten näherten sich gebückt der Kirche. Der Schnee lag knöcheltief auf dem Vorplatz und schluckte ihre Schritte, nicht aber das leise Fluchen, das eine der beiden von sich gab. Nathanael grinste. Dieser neunmalkluge Medicus würde es nie lernen, lautlos zu schleichen.
Umso besser.
Jetzt waren der Medicus und seine Dirne an der rechten Kirchenseite unter einem Baugerüst angelangt. Nathanael gab Bruder Avenarius ein Zeichen und setzte den beiden nach. Plötzlich zögerte er. Es war zunächst nur eine kleine Bewegung gewesen, die er mit dem Augenwinkel wahrgenommen hatte. Doch als er genauer hinblickte, sah er es ganz deutlich.
An der linken Kirchenseite, dort, wo die Grabplatten eingemauert waren, lösten sich drei Schatten von der Wand.Wie Geister glitten sie an der Kirche entlang und näherten sich dem Medicus und seiner Begleiterin.
Nathanael zog sich die Kapuze über, steckte den Dolch in die Kordel und wurde eins mit dem Schnee. Sein Gefühl in den letzten Tagen hatte ihn nicht getäuscht. Sie wurden verfolgt.
Es war an der Zeit herauszufinden, mit wem sie es zu tun hatten.
Simon sah an dem vereisten Baugerüst empor und warf Benedikta einen skeptischen Blick zu.
»Da sollen wir hinauf? Wir werden abrutschen und ... «
Doch die Händlerin hatte sich bereits auf die unterste Ebene des Gerüsts gehievt. Wieder einmal war der Medicus erstaunt, wie geschickt sie sich bewegte. Er wollte ihr noch etwas nachrufen, doch dann ergab er sich in sein Schicksal, zog sich ächzend hoch, um von dort auf das nächste und gleich darauf auf das übernächste Stockwerk des Baugerüsts zu klettern. Von hier oben konnte er schließlich den gesamten verschneiten Klosterhof überblicken. In einigen Fenstern der gegenüberliegenden Gebäude brannte noch Licht, ansonsten war es stockfinster. Für einen Moment glaubte Simon, eine Bewegung auf dem Vorplatz zu erkennen, aber in der Dunkelheit und dem Schneetreiben sah er nicht gut genug. Schließlich wendete er sich der Fensteröffnung zu, durch die Benedikta bereits in die Kirche geklettert war.
Ihr Plan schien aufzugehen. Die Handwerker hatten ihre Arbeit bis zum Abend nicht beenden können, in einigen der Fenster fehlten noch die neuen Gläser. Nun saß
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