Die Henkerstochter und der schwarze M�nch
Medicus wollte ihr das ausreden, doch ein Blick von ihr ließ ihn verstummen. Die Händlerswitwe sah nicht so aus, als ob sie Widerspruch duldete.
Simons Gedanken kehrten zurück zur Krypta und der Inschrift auf dem Sarg.
Non nobis, Domine, non nobis, sed nomini tuo da gloriam …
Wo hatte er diesen Spruch schon einmal gelesen? War es in der Ingolstädter Universität gewesen? Nein, es war noch nicht so lange her. Also in Schongau? In der Stadt gab es eigentlich nur drei Orte, an denen es mehr Bücher gab als nur die Bibel und ein paar Bauernkalender. Der erste war Simons Schlafzimmer beziehungsweise eine Truhe neben seinem Bett, in dem er sich auch tagsüber gerne aufhielt. Der zweite war eine Kammer im Hause des Scharfrichters, wo Jakob Kuisl in einem Schrank Bücher über Kräuter, Gifte, aber auch Skripten über neuartige Heilmethoden verwahrte. Der dritte schließlich war die beheizte Bibliothek des Patriziers Jakob Schreevogl, einem Bücherfreund, der Simon seit den Kindermordenvor einem Jahr freundschaftlich verbunden war. Damals hatte der Medicus die Tochter des Patriziers gerettet.
Schreevogl ... Bibliothek …
In Simons Kopf tönte eine feine Glocke.
Ohne auf die Frauen zu warten, rannte er durch das Stadttor, so dass die beiden Büttel überrascht von ihrem Nickerchen aufschreckten.
»Wo willst du hin, Simon?«, rief Magdalena ihm nach.
»Muss ... etwas ... erledigen«, brachte Simon noch während des Laufens hervor. Dann war er hinter der nächsten Ecke verschwunden.
»Hat er das öfter?«, fragte Benedikta die neben ihr gehende Magdalena.
Die Henkerstochter zuckte die Achseln. »Fragt ihn besser selbst. Manchmal glaube ich, ihn gar nicht richtig zu kennen.«
Simon rannte die Münzgasse entlang und am Rathaus vorbei. Am Platz dahinter reihten sich die eleganten Häuser der Patrizier. Dreistöckige Gebäude mit prunkvollen Balustraden, Stuckarbeiten und bunten Wandmalereien, die vom Wohlstand ihrer Bewohner erzählten. Die Stadt mochte unter dem Großen Krieg gelitten haben, doch die Ratsherren hatten sich hinübergerettet in die neue Zeit. Durch die Zahlung eines saftigen Lösegelds war Schongau der Zerstörung durch die Schweden gerade noch entronnen. Die Lechvorstadt hatten die feindlichen Truppen zwar niedergebrannt; die Häuser hier am Marktplatz hingegen besaßen noch etwas von dem Glanz vergangener Jahrhunderte, als Schongau eine mächtige Handelsstadt gewesen war. Nur der bröckelnde Putz und die teils abblätternde, ausgebleichte Farbe verrieten, dass die Stadt am Fluss mittlerweile vor sich hin siechte. Das Leben fand anderswo statt, in Frankreich, den Niederlanden, vielleicht noch in München und Augsburg,doch sicher nicht im bayerischen Pfaffenwinkel am Rande der Alpen.
Obwohl es noch nicht dämmerte, waren die Straßen der Stadt wie leergefegt. Die Menschen hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen und wärmten sich am Kamin in der Stube oder am Küchenofen. Hinter den Glasfenstern der bürgerlichen Fassaden leuchtete hier und da eine Kerze oder Öllampen flackerten. Simons Ziel war das dreigeschossige Patrizierhaus der Schreevogls auf der linken Seite. Sooft er konnte, besuchte er die gutsortierte Bibliothek des Ratsherrn. Er war sich inzwischen ziemlich sicher, dass er den Spruch aus der Krypta hier gelesen hatte. Irgendwann beim Blättern und Schmökern musste ihm die Formulierung aufgefallen sein.
Nach zweimaligem Läuten öffnete ihm die Dienstmagd Agnes, die ihn mit einem Kopfnicken begrüßte. Im Hintergrund ertönte Freudengeschrei; es war Clara Schreevogl, die ihm mit ausgebreiteten Armen entgegenstürmte. Seit ihrem gemeinsamen Abenteuer vor fast einem Jahr war Simon für das zehnjährige Waisenkind, das die Schreevogls neben ihren eigenen Kindern in Obhut genommen hatten, so etwas wie ein Onkel geworden. Sie sprang an ihm hoch und hielt sich mit ihren kleinen Händchen an seinem Rock fest.
»Onkel Simon, hast du mir was vom Markt mitgebracht?«, rief sie. »Getrocknete Zwetschgen oder Honigkonfekt? Sag, hast du?«
Lachend schüttelte Simon das Mädchen ab. Immer wenn der Medicus Jakob Schreevogl und seine Hausbibliothek aufsuchte, stattete er auch Clara einen Besuch ab. Meist hatte er für sie ein kleines Geschenk dabei, einen Kreisel, ein geschnitztes Holzpüppchen oder eine mit Honig kandierte Frucht.
»Du bist wie eine Klette! Weißt du das? Und eine vernaschte noch dazu!« Behutsam strich er ihr durchs Haar. »Diesmal hab ich nichts dabei. Schau mal in der
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