Die Henkerstochter
«
Ohne ihren Satz zu beenden, rannte sie an ihm vorbei ins Innere des Hauses. Er lief ihr hinterher. In der Stube trafen sie auf zwei fünfjährige Unschuldsengel, die in einem See von Milch saßen. Neben ihnen lag ein zerbrochener Krug. Gerade angelten sie sich mit ihren Fingern Honig aus einer Tonschüssel. Beide Zwillinge waren vonKopf bis Fuß weiß eingestäubt. Erst jetzt sah Simon, dass auch das Mehlfass umgekippt war.
»Georg und Barbara, was fällt euch ein ...«
Eigentlich wollte Anna Maria Kuisl zu einer Schimpftirade ansetzen, doch die Erleichterung, die Zwillinge unversehrt anzutreffen, war zu groß. Sie musste laut auflachen. Schnell hatte sie sich jedoch wieder gefangen.
»Hinauf mit euch ins Bett. In der nächsten Stunde möchte ich keinen von euch hier mehr sehen. Seht selbst, was ihr angerichtet habt!«
Schuldbewusst trotteten die Zwillinge nach oben. Während Anna Maria Kuisl die Milch aufwischte und die Scherben und das Mehl zusammenkehrte, berichtete sie Simon noch einmal in kurzen Worten, was passiert war.
»Ich bin nach Hause gekommen, da saß er wie versteinert auf der Bank. Als ich ihn gefragt habe, was los ist, hat er nur gesagt, die Magdalena sei weg. Der Teufel habe sie mitgenommen, der Teufel, mein Gott ...«
Sie warf die Scherben achtlos in eine Ecke und hielt sich die Hand vor den Mund. Tränen rannen aus ihren Augen. Sie musste sich hinsetzen.
»Simon, sag mir, was das alles zu bedeuten hat! «
Der Medicus sah sie lange an, ohne etwas zu antworten. Die Gedanken rasten durch seinen Kopf. Er wollte aufspringen und handeln, doch er wusste nicht, was er tun sollte. Wo war Magdalena? Und wo war der Henker? War er ihr gefolgt? Wusste er vielleicht, wohin der Teufel seine Tochter verschleppt hatte? Und was wollte der Mann mit dem Mädchen?
»Ich ...ich kann es dir nicht genau sagen«, murmelte er schließlich. »Aber ich glaube, dass der Mann, der die Kinder auf dem Gewissen hat, mit Magdalena weg ist.«
»Oh, Gott!« Anna Maria Kuisl vergrub ihr Gesicht inden Händen. »Aber warum? Warum? Was will er von meinem kleinen Mädchen?«
»Ich glaube, er will deinen Mann damit erpressen. Er will, dass wir ihn nicht mehr verfolgen. Dass wir ihn in Ruhe lassen.«
Die Frau des Henkers sah ihn hoffnungsvoll an. »Und wenn ihr das tut, was er sagt, wird er dann Magdalena wieder freilassen?«
Simon hätte gerne genickt, sie getröstet und ihr gesagt, dass ihre Tochter bald wieder zurückkommen würde. Aber er konnte es nicht. Stattdessen stand er auf und ging zur Tür.
»Wird er sie wieder freilassen?« Anna Kuisls Stimme hatte etwas Flehendes. Sie schrie fast. Simon drehte sich nicht um.
»Ich glaube nicht. Dieser Mann ist krank und böse. Er wird sie töten, wenn wir ihn nicht vorher finden.«
Er eilte durch den Garten zurück zur Stadt. Hinter sich hörte er, wie die Zwillinge anfingen zu weinen. Sie hatten sich auf der Stiege versteckt und heimlich gelauscht. Obwohl sie nichts verstanden haben konnten, spürten sie trotzdem, dass etwas sehr Schlimmes passiert sein musste.
Zunächst wanderte Simon ziellos durch die Gassen des Gerberviertels und dann unten am Fluss entlang. Er musste seine Gedanken ordnen, das träge Fließen des Lechs half ihm dabei. Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder er fand das Versteck, in dem der Teufel Magdalena festhielt, oder er fand heraus, wer den Teufel beauftragt hatte. Wenn er den Auftraggeber kannte, dann könnte dieser die Entführung vielleicht rückgängig machen. Gesetzt den Fall, dass Magdalena noch lebte …
Ein Schauder durchfuhr Simon. Die Vorstellung, dasssein geliebtes Mädchen vielleicht mit aufgeschnittener Kehle im Fluss trieb, blockierte all sein Denken. Er durfte diesen Gedanken nicht zulassen. Außerdem ergab das keinen Sinn. Magdalena war das Pfand des Teufels, er würde dieses Pfand nicht so schnell wegwerfen.
Simon hatte keine Ahnung, wo der Teufel Magdalena versteckt haben könnte. Aber er hatte eine Vermutung, wo sich die Kinder aufhielten, die ihm den Auftraggeber nennen konnten. Irgendwo auf der Baustelle. Nur wo?
Wo verdammt?
Er beschloss, noch einmal Jakob Schreevogl aufzusuchen. Schließlich hatte das Grundstück einmal seinem Vater gehört. Vielleicht wusste er von einem möglichen Versteck, auf das sie beide, Henker und Medicus, noch nicht gekommen waren.
Nach einer halben Stunde war er wieder oben am Marktplatz. Die Stände hatten sich merklich geleert; jetzt am frühen Nachmittag waren die Bürger mit ihren
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