Die Henkerstochter
Einkäufen fertig. Die Marktfrauen verstauten das liegengebliebene Gemüse in Körben oder sorgten sich um ihre quengelnden Kinder, die den ganzen Tag mit ihnen am Stand hatten bleiben müssen. Welke Salatblätter und fauler Kohl lag auf dem Boden zwischen Pferdeäpfeln und Ochsenmist. Jetzt eilten die Menschen nach Hause. Morgen war der 1. Mai, und für viele fing dieser Feiertag jetzt schon an. Außerdem bereitete man sich auf die Maifeier vor. Wie in vielen anderen bayerischen Dörfern und Städten würden auch die Schongauer morgen den Beginn des Sommers feiern. Diese Nacht gehörte den Liebenden. Simon schloss die Augen. Eigentlich hatte er vorgehabt, das Maifest gemeinsam mit Magdalena zu verbringen. Er spürte einen Kloß im Hals. Je mehr er nachdachte, um somehr kroch die Angst in ihm hoch.
Plötzlich fiel ihm wieder ein, dass heute Nacht noch etwas ganz anderes gefeiert wurde. Wie hatte er das nur vergessen können! Die Nacht vom 30. April auf den 1. Mai war die Walpurgisnacht! Die Hexen tanzten in den Wäldern und paarten sich mit dem Teufel, und es gab nicht wenige Menschen, die sich mit Schutzzaubern, mit Zeichen an ihren Fenstern und Salz vor den Türen gegen das Böse wappneten. Hatten die furchtbaren Morde und seltsamen Zeichen am Ende doch etwas mit der Walpurgisnacht zu tun? Auch wenn Simon das bezweifelte, fürchtete er doch, dass diese Nacht für manchen Bürger Anlass sein könnte, der vermeintlichen Hexe in der Feste den Garaus zu machen. Die Zeit lief ihm davon.
Er ging am Schloss vorbei in die Bauerngasse und befand sich schon bald vor dem Haus der Schreevogls. Oben auf dem Balkon stand eine Dienstmagd. Misstrauisch spähte sie zu Simon hinunter. Es hatte sich mittlerweile herumgesprochen, dass er ein Techtelmechtel mit der Henkerstochter hatte. Als Simon ihr ein Zeichen gab, verschwand sie grußlos im Haus, um ihrem jungen Herrn Bescheid zu geben.
Kurze Zeit später öffnete ihm Jakob Schreevogl persönlich die Tür und bat ihn herein.
»Simon, was für eine Freude! Ich hoffe, der Verdacht gegen mich hat sich zerstreut. Wisst ihr etwas Neues von meiner Clara? «
Simon überlegte kurz, inwieweit er den Patrizier ins Vertrauen ziehen konnte. Er war sich nach wie vor nicht sicher, welche Rolle Jakob Schreevogl in diesem Stück spielte. Daher beließ er es bei ein paar knappen Sätzen.
»Wir glauben, dass Söldner die Kinder ermordet haben, weil sie etwas gesehen haben, was sie nicht sehen sollten. Aber wir wissen nicht, was das gewesen sein könnte.«
Der Patrizier nickte.
»Diese Vermutung habe ich auch. Aber der Rat will euch nicht glauben. Erst heute Vormittag hat man sich wieder getroffen. Die hohen Herren wollen reinen Tisch machen! Da passen ihnen eine Hexe und der Teufel besser ins Bild, gerade jetzt, wo die Zeit drängt. Schon morgen kommt der kurfürstliche Verwalter.«
Simon zuckte zusammen.
»Morgen schon? Dann haben wir weniger Zeit, als ich gehofft habe.«
»Außerdem bestreitet Bürgermeister Semer, dass die Söldner sich mit jemandem oben in seinen Kammern getroffen haben«, fuhr Jakob Schreevogl fort.
Simon lachte trocken auf.
»Eine Lüge! Die Resl, die Magd vom Semer, hat’s mir doch erzählt. Sie hat die Söldner genau beschreiben können. Und sie sind nach oben gegangen!«
»Und wenn sich die Resl getäuscht hat? «
Simon schüttelte den Kopf.
»Die war sich ganz sicher. Eher lügt der Bürgermeister.« Er seufzte. »Mittlerweile weiß ich überhaupt nicht mehr, wem ich noch trauen kann ... Aber ich bin wegen etwas anderem gekommen. Wir haben eine Vermutung, was das Versteck von Clara und Sophie angeht.«
Jakob Schreevogl eilte auf ihn zu und packte Simon an den Schultern.
»Wo? Sagt mir, wo? Ich werde alles tun, um sie zu finden!« »Nun, wir glauben, sie könnten sich auf der Baustelle des Siechenhauses versteckt halten.«
Der Patrizier blinzelte ungläubig.
»Auf der Baustelle?«
Simon nickte und begann, im Vorraum unruhig auf und ab zu gehen.
»Wir haben Lehmspuren unter den Fingernägeln der toten Kinder gefunden. Lehm, der von der Baustelle des Siechenhauses stammen könnte. Es ist gut möglich, dass die Kinder aus ihrem Versteck dort etwas gesehen haben und sich jetzt aus Angst nicht mehr hervortrauen. Allerdings haben wir bereits alles abgesucht und nichts gefunden.«
Er wandte sich wieder dem Patrizier zu.
»Habt Ihr eine Ahnung, wo sich die Kinder versteckt haben könnten? Hat Euer verstorbener Vater irgendetwas erzählt? Eine Höhle? Ein
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