Die Henkerstochter
der Atem.
F.S. …
Das musste die Abkürzung für Ferdinand Schreevogl sein! Er war am zwölften Oktober 1646 hier gewesen, und er hatte offensichtlich Wert darauf gelegt, dass die Nachwelt davon erfuhr.
Schnell rechnete der Henker zurück. 1646, das war das Jahr, in dem die Schweden Schongau eingenommen hatten. Die Einäscherung ihrer Stadt hatten die Bürger nur durch die Zahlung eines saftigen Lösegelds verhindern können. Trotzdem waren in den darauffolgenden zwei Jahren sämtliche Vororte Schongaus, also Altenstadt, Niederhofen, Soyen und auch Hohenfurch, ein Raub der Flammen geworden. Kuisl dachte nach. Schongau war seines Wissens im November 1646 den Schweden übergeben worden. Wenn also der alte Schreevogl noch im Oktober des gleichen Jahres hier unten gewesen war, dann konnte das eigentlich nur einen Grund gehabt haben.
Er hatte sein Vermögen hier im Labyrinth versteckt.
Jakob Kuisls Gedanken rasten. Wahrscheinlich hatte der Alte schon immer von dem Schrazelloch gewusst, ein altes Familiengeheimnis, das er schließlich mit ins Grab genommen hatte. Als die Schweden kamen, hatte er sich daran erinnert und den Großteil seines Geldes hier unten vergraben. Jakob Schreevogl hatte Simon erzählt, dass im Testament seines Vaters kaum Geld verzeichnet war. Jetzt wusste der Henker auch, warum.
Der Alte hatte den Schatz die ganze Zeit über hier unten gelassen, wahrscheinlich für kommende, schlechtere Zeiten! Und als er sich mit seinem Sohn überworfen hatte, hatte er beschlossen, das Grundstück samt Schatz der Kirche zu vermachen. Allerdings ohne der Kirche etwas davon zu erzählen; nur Andeutungen hatte er gemacht. Was hatte Schreevogl dem Pfarrer noch einmal gesagt?
Sie werden mit dem Grundstück noch viel Gutes bewirken können …
Wer weiß, vielleicht wollte er dem Pfarrer ja noch davon erzählen und war ganz plötzlich gestorben. Vielleicht wollte er sein Geheimnis aber auch mit ins Grab nehmen.Schließlich war Ferdinand Schreevogl schon immer als verschrobener Charakter bekannt gewesen. Doch irgendjemand musste von dem Geheimnis gewusst haben, und dieser Jemand hatte alles darangesetzt, den Schatz zu finden. Der Bau des Siechenhauses hatte dem Unbekannten zunächst einen Strich durch die Rechnung gemacht. Doch dann hatte er Söldner engagiert, die die Baustelle sabotieren sollten, damit er längere Zeit unbeobachtet suchen konnte.
Der Unbekannte hatte auch nicht vor drei Morden zurückgeschreckt. Morden an Kindern …
Jakob Kuisl überlegte. Irgendetwas mussten die Kinder gesehen haben, etwas, was den Mann hätte verraten können. Oder wussten sie am Ende vom Schatz, und er hatte versucht, das Geheimnis aus ihnen herauszupressen?
Der Henker ließ den Schein der Laterne über den lehmigen Boden wandern. Schutt lag dort; in einer Ecke lehnte ein rostiger Handspaten. Kuisl wühlte mit den Händen den Schutt durch. Als er auf diese Weise nichts fand, griff er zum Spaten und begann zu graben. Einen Moment lang meinte er von fern ein schwaches Geräusch zu hören, wie ein leises Rufen. Er hielt inne. Als er nichts weiter hörte, grub er tiefer. Die Kammer war ausgefüllt vom Klirren des Spatens und seinem heftigen Atmen. Er grub und grub, schließlich stieß er auf harten Fels. Nichts, kein Schatz. Keine Scherben, kein leeres Kästchen, gar nichts. Ob die Kinder schon vorher hier gewesen waren und den Schatz mitgenommen hatten?
Noch einmal glitt sein Blick über die Inschrift an der Wand.
F. S. hic erat XII. Octobris, MDCXLVI …
Er stutzte und trat näher an die Wand heran. Der Bereich um die Inschrift sah heller aus als der Rest der Wand.Ein armlanges, quadratisches Rechteck, das man notdürftig mit Lehm verputzt hatte, um den Unterschied zur übrigen Wand zu kaschieren.
Der Henker nahm den Spaten und hieb mit voller Wucht gegen die Inschrift. Der Lehm bröckelte, dahinter kamen rote Ziegelsteine zum Vorschein. Er schlug noch einmal dagegen. Die Ziegelsteine zersplitterten, ein Loch entstand. Erst war es nur faustgroß, aber als der Henker noch drei weitere Male dagegengeschlagen hatte, weitete es sich und gab die Sicht frei auf eine dahinterliegende Sitznische, die zugemauert gewesen war.
Auf der Sitznische stand ein irdener Krug, dessen Öffnung mit Wachs versiegelt war.
Der Henker schlug mit dem Spaten dagegen. Der Krug zerplatzte, und ein Strom von Gold- und Silbermünzen ergoss sich über die Nische. Die Münzen funkelten im Licht der Laterne, als seien sie erst gestern poliert
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