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Die Henkerstochter

Titel: Die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver P�tzsch
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einziehen.
    Johann Lechner raffte die Pergamentrollen zusammen,legte sie zurück in die Regale an der Wand und machte sich auf den Weg hinüber ins Ballenhaus. In einer halben Stunde begann die große Ratsversammlung, und es gab noch einiges zu erledigen. Er hatte über den Stadtausrufer noch einmal alle Ratsmitglieder gebeten zu kommen. Den Inneren und den Äußeren Rat, aber auch die sechs einfachen Gemeindemitglieder. Lechner wollte reinen Tisch machen.
    Nachdem er den um diese Zeit belebten Marktplatz überquert hatte, betrat der Schreiber das Ballenhaus. In der großen, neun Schritt hohen Halle waren Kisten und Säcke gestapelt, bereit für den Weitertransport in ferne Städte und Länder. In einer Ecke türmten sich Blöcke von Sand- und Tuffstein, es roch nach Zimt und Koriander. Lechner stieg die breite Holztreppe nach oben in den ersten Stock. Eigentlich hatte er als amtlicher Stellvertreter des Kurfürsten hier oben im städtischen Ratssaal nichts verloren. Doch seit dem großen Krieg waren die Patrizier es gewohnt, dass eine starke Hand für Ruhe und Ordnung sorgte. Also ließ man den Schreiber gewähren. Fast selbstverständlich leitete er mittlerweile die Ratssitzungen. Johann Lechner war ein Mann der Macht, und er hatte nicht vor, sich diese Macht wieder entreißen zu lassen.
    Die Tür zum Ratssaal war geöffnet. Erstaunt bemerkte der Schreiber, dass er nicht wie gewöhnlich der Erste war. Bürgermeister Karl Semer und Ratsmitglied Jakob Schreevogl waren bereits vor ihm eingetroffen. Sie schienen in ein heftiges Gespräch verwickelt zu sein.
    »Und ich sage Euch, die Augsburger werden eine neue Straße bauen, und dann sitzen wir hier wie ein Fisch auf dem Trockenen«, fuhr Semer sein Gegenüber an, der unentwegt den Kopf schüttelte. Der junge Schreevogl war erst vor einem halben Jahr anstelle seines verstorbenenVaters in den Rat gerückt. Schon des Öfteren war der hochgewachsene Patrizier mit dem Bürgermeister aneinandergeraten. Im Gegensatz zu seinem Vater, der mit Semer und den anderen älteren Ratsmitgliedern gut befreundet gewesen war, hatte er seine eigene Meinung. Und auch jetzt ließ er sich von Karl Semer nicht einschüchtern.
    »Das dürfen sie nicht, das wisst Ihr. Sie haben’s schon mal versucht, und da hat ihnen der Fürst einen Strich durch die Rechnung gemacht.«
    Doch Semer ließ nicht mit sich reden. »Das war vor dem Krieg! Der Kurfürst hat jetzt andere Sorgen! Glaubt einem alten Haudegen, die Augsburger bauen ihre Straße. Wenn wir dann noch die gottverdammten Aussätzigen vor der Tür haben, ganz zu schweigen von dieser schrecklichen Mordgeschichte ... Die Händler werden uns meiden wie die Pest!«
    Mit einem Räuspern trat Johann Lechner ein und begab sich zur Mitte des u-förmigen Eichentisches, der den ganzen Raum einnahm. Bürgermeister Semer eilte auf ihn zu.
    »Gut, dass Ihr da seid, Lechner! Ich hab dem jungen Schreevogl noch einmal von dem Siechenhaus abgeraten. Gerade zum jetzigen Zeitpunkt! Die Augsburger Kaufleute graben uns das Wasser ab, und wenn sich dann noch herumspricht, dass vor unseren Toren ...«
    Johann Lechner zuckte mit den Schultern.
    »Das Siechenhaus ist Sache der Kirche. Redet mit dem Herrn Pfarrer, aber ich glaube kaum, dass Ihr Erfolg haben werdet. Und jetzt entschuldigt mich.«
    Der Schreiber schob sich an dem beleibten Bürgermeister vorbei und schloss die Tür zum Hinterzimmer auf. Hier an der Wand ragte bis zur Decke ein nach vorne offener Schrank mit Fächern und Schubladen, vollgestopft mit Pergamenten. Johann Lechner stieg auf einen Schemelund zog die für heute notwendigen Papiere hervor. Dabei fiel sein Blick auch auf die Akte zum Siechenhaus. Schon letztes Jahr hatte die Kirche beschlossen, vor der Stadt an der Straße nach Hohenfurch ein Heim für Leprakranke zu errichten. Das alte war schon vor Jahrzehnten verfallen, doch die Krankheit hatte seitdem nicht nachgelassen.
    Beim Gedanken an die heimtückische Seuche durchfuhr Lechner ein Schauer. Die Lepra galt neben der Pest als gefürchtetste aller Plagen. Wer sich angesteckt hatte, verfaulte bei lebendigem Leib. Nase, Ohren und Finger fielen wie faules Obst ab. Das Gesicht war im Endstadium nur mehr eine einzige Wucherung, ohne Ähnlichkeit mit dem Antlitz eines Menschen. Da die Krankheit hoch ansteckend war, wurden die armen Seelen meist aus der Stadt gejagt oder mussten Schellen und Klappern tragen, damit man sie schon von weitem erkennen und meiden konnte. Als Zeichen der Barmherzigkeit,

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