Die Henkerstochter
wollte er anklopfen, als von drinnen eine Stimme erklang.
»Komm rein.«
Der Schreiber musste die Ohren eines Luchses haben.
Der Henker öffnete die Türe und trat in die enge Kammer. Johann Lechner saß an seinem Schreibtisch, fast verborgen hinter Stapeln von Büchern und Pergamenten. Die rechte Hand kritzelte mit einer Feder Notizen in eine Kladde, die linke wies Kuisl einen Platz zu. Trotz der ersten Sonnenstrahlen vor dem Fenster war es hier im Raum dämmrig, nur einige Trankerzen spendeten flackerndes Licht. Der Henker ließ sich auf einem unbequemen Holzschemel nieder. Er wartete, bis der Gerichtsschreiber von seinen Unterlagen aufblickte.
»Du weißt, warum ich dich gerufen habe?«
Johann Lechner sah den Scharfrichter durchdringend an. Der Gerichtsschreiber hatte den schwarzen Vollbartseines Vaters geerbt, der auch schon in Schongau als Schreiber tätig gewesen war. Die gleiche Blässe, die gleichen schwarzen, stechenden Augen. Die Lechners waren ein einflussreiches Geschlecht in der Stadt, und das ließ Johann Lechner seine Gesprächspartner gern spüren.
Kuisl nickte und fing an, sich eine Pfeife zu stopfen.
»Lass das«, sagte der Schreiber. »Du weißt, dass ich die Raucherei nicht mag. «
Der Henker packte die Pfeife wieder weg und warf Lechner einen herausfordernden Blick zu. Nach einer Weile erst richtete er das Wort an ihn.
»Wegen der Stechlin, nehm ich an.«
Johann Lechner nickte. »Das gibt Ärger. Jetzt schon. Dabei ist’s erst gestern gewesen. Die Leute reden ... « »Und was hab ich damit zu tun? «
Lechner beugte sich über den Tisch und bemühte sich zu lächeln. Es gelang ihm nur halb.
»Du kennst sie. Ihr habt doch miteinander zu schaffen. Sie hat deine Kinder zur Welt gebracht. Ich will, dass du mit ihr redest.«
»Und was soll ich mit ihr reden?«
»Bring sie dazu, dass sie gesteht.«
»Dass sie was ...?«
Lechner schob seinen Oberkörper noch weiter über den Tisch. Ihre Gesichter waren jetzt nur eine Handbreit voneinander entfernt.
»Du hast mich richtig verstanden. Dass sie gesteht.«
»Aber es ist doch nichts erwiesen. Bis jetzt haben ein paar Frauen getratscht. Der Junge war ein paar Mal bei ihr, das ist alles.«
»Die Sache muss aus der Welt.« Johann Lechner lehnte sich in seinem Stuhl zurück, seine Finger trommelten auf die Lehne. »Es hat schon zu viel Gerede gegeben. Wennwir’s schleifen lassen, dann geht’s uns wie zu Zeiten deines Großvaters. Dann hast du viel zu tun. «
Der Henker nickte. Er wusste, worauf Lechner anspielte. Knapp siebzig Jahre war es jetzt her, dass im berühmten Schongauer Hexenprozess Dutzende von Frauen auf dem Scheiterhaufen gelandet waren. Was mit einem Unwetter und einigen ungeklärten Sterbefällen angefangen hatte, endete in einer Hysterie, in der jeder jeden anzeigte. Über sechzig Frauen hatte sein Großvater Jörg Abriel damals geköpft, ihre Körper waren später verbrannt worden. Meister Jörg war dadurch reich und berühmt geworden. Damals hatte man an einigen der Verdächtigten sogenannte Hexenmale gefunden, Muttermale, deren Form über das Schicksal der armen Frauen entschied. Diesmal ging es um ein offensichtlich ketzerisches Zeichen, dem auch Kuisl nicht eine Nähe zur Hexerei absprechen konnte. Der Gerichtsschreiber hatte recht. Die Menschen würden weiter nach Zeichen suchen. Und wenn es zunächst vielleicht auch keine weiteren Toten gab, die Verdächtigungen würden nicht aufhören. Ein Lauffeuer, das ganz Schongau in Brand setzen konnte. Es sei denn, jemand gestand und nahm die ganze Schuld auf sich.
Martha Stechlin …
Jakob Kuisl zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht, dass die Stechlin was mit dem Mord zu tun hat. Das kann jeder gewesen sein, auch ein Fremder. Der Junge trieb im Fluss. Weiß der Teufel, wo sie ihn abgestochen haben. Vielleicht waren’s marodierende Soldaten.«
»Und das Zeichen? Der Vater des Jungen hat mir das Zeichen beschrieben. Sah es nicht so aus? « Johann Lechner reichte ihm eine Zeichnung herüber. Auf ihr prangte der Kreis mit dem umgekehrten Kreuz. »Du weißt, was das ist«, zischte der Schreiber. »Hexenwerk.«
Der Henker nickte. »Aber das heißt noch lange nicht, dass die Stechlin ...«
»Die Hebammen kennen sich mit diesen Dingen aus!« Lechner war jetzt lauter geworden, als man es von ihm gewohnt war. »Ich habe immer davor gewarnt, dass wir solche Frauen besser nicht in der Stadt beherbergen. Sie sind Hüterinnen geheimen Wissens, und sie verderben unsere Frauen
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