Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Henkerstochter

Titel: Die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver P�tzsch
Vom Netzwerk:
aber auch um eine weitere Ansteckung zu vermeiden, hatten viele Städte deshalb sogenannte Leprosorien eingerichtet, Ghettos außerhalb der Stadtmauern, in denen die Kranken dahinsiechten. Auch Schongau plante ein solches Siechenhaus. Seit einem halben Jahr waren die Bauarbeiten an der Straße nach Hohenfurch im vollen Gange, doch der Rat stritt noch immer über diesen Beschluss. Als Johann Lechner wieder in den Ratssaal zurückkehrte, hatten sich die meisten Ratsmitglieder bereits eingefunden. In kleinen Gruppen standen sie beieinander. Es wurde gemurmelt und heftig debattiert. Alle hatten sie ihre eigene Geschichte vom Tod des Jungen gehört. Auch als Johann Lechner die Glocke läutete, dauerte es eine ganze Weile, bis der Letzte auf seinem Stuhl Platz genommen hatte. Nach alter Sitte saßen der Erste Bürgermeister und der Schreiber in der Mitte. Zu ihrer Rechten befanden sich diePlätze des Inneren Rats, sechs Männer aus den ehrwürdigsten Familien Schongaus. Dieser Rat stellte auch die vier Bürgermeister, die sich vierteljährlich abwechselten. Die alteingesessenen Familien teilten die Bürgermeisterposten seit Jahrhunderten unter sich auf. Offiziell wurden sie zwar von den anderen Ratsmitgliedern gewählt, doch es galt als ewiges Gesetz, dass die einflussreichsten Dynastien auch die Bürgermeister stellten.
    Links saßen die sechs Mitglieder des Äußeren Rats, der ebenso aus mächtigen Patriziern gebildet wurde. An der Wand schließlich lehnten die Stühle für die einfachen Gemeindevertreter.
    Der Schreiber sah sich um. Die geballte Macht der Stadt war hier versammelt. Rottfuhrleute, Händler, Bierbrauer, Lebzelter, Kürschner, Müller, Gerber, Hafner und Tuchmacher ... all die Semers, Schreevogls, Augustins und Hardenbergs, die seit Jahrhunderten über das Wohl der Stadt entschieden. Ernste, dunkel gewandete Männer, die mit ihren weißen Halskrausen und Knebelbärten, mit ihren feisten Gesichtern und runden Bäuchen, über die sich mit Goldketten behängte Westen spannten, aussahen wie aus einer anderen Zeit. Der Krieg hatte Deutschland ins Elend gestürzt, aber an diesen Männern war er unbeschadet vorübergegangen. Lechner musste unwillkürlich lächeln. Fett schwimmt immer oben.
    Alle waren in heller Aufregung. Sie wussten, dass der Tod des Jungen auch ihre eigenen Geschäfte beeinträchtigen konnte. Der Frieden ihrer kleinen Stadt stand auf dem Spiel! Das Getuschel in der holzvertäfelten Ratsstube erinnerte den Schreiber an das wütende Summen von Bienen.
    »Ruhe bitte! Ruhe!«
    Lechner läutete noch einmal mit der Glocke. Dannschlug er mit der flachen Hand auf den Tisch. Endlich trat Stille ein. Der Schreiber griff zum Federkiel, um die Sitzung schriftlich festzuhalten. Bürgermeister Karl Semer sah besorgt in die Runde. Schließlich wandte er sich an die Ratsmitglieder.
    »Ihr habt alle von dem schrecklichen Vorfall gestern gehört. Ein grauenhaftes Verbrechen, das es so schnell als möglich aufzuklären gilt. Ich habe mit dem Gerichtsschreiber ausgehandelt, dass wir diesen Punkt als Erstes besprechen. Alles Weitere kann warten. Ich hoffe, das ist auch in eurem Interesse.«
    Die Ratsherren nickten bedächtig. Je schneller der Fall gelöst war, desto schneller konnten sie sich wieder ihren eigentlichen Geschäften widmen.
    Bürgermeister Semer fuhr fort: »Glücklicherweise schaut es so aus, als ob wir die Schuldige schon gefunden hätten. Die Hebamme Stechlin sitzt bereits im Loch. Der Scharfrichter wird ihr bald einen Besuch abstatten. Dann wird sie reden müssen.«
    »Was macht sie denn verdächtig?«
    Alle Ratsherren sahen irritiert hinüber zum jungen Schreevogl. Es war nicht üblich, den Ersten Bürgermeister so früh zu unterbrechen. Noch dazu, wenn man erst seit so kurzer Zeit im Rat saß. Jakob Schreevogls Vater Ferdinand war ein mächtiger Mann im Rat gewesen, ein wenig verschroben zwar, aber einflussreich. Sein Sohn musste sich seine Sporen erst verdienen. Im Gegensatz zu den anderen trug der junge Patrizier keine Halskrause, sondern einen breiten Spitzenkragen. Auch fiel sein Haar der neuesten Mode entsprechend in Locken auf die Schultern. Sein ganzes Auftreten war ein Affront gegen jeden altgedienten Ratsherren.
    »Was sie verdächtig macht? Nun, ganz einfach, ganzeinfach ...« Bürgermeister Karl Semer war durch die Frage aus dem Konzept gebracht worden. Mit einem Tuch wischte er sich kleine Schweißtropfen von der beginnenden Glatze. Seine breite Brust hob und senkte sich unter der

Weitere Kostenlose Bücher