Die Henkerstochter
noch erfüllte es ihn mit Schmerz. Er hatte keinen Dank erwartet, aber wenigstens einen Platz hinten auf dem Karren. So musste er weiter den schlammigen Weg entlangwandern, die Eichen zu beiden Seiten gaben nur wenig Schatten. Immer wieder kehrten seine Gedanken zur Stechlin zurück, die mit jedem Glockenschlag der Tortur und dem Feuer näher kam.
Heute Nachmittag muss es losgehen, dachte er. Aber vielleicht kann ich sie hinhalten …
Als zu seiner Linken ein Wildwechsel auftauchte, glitt er gebückt unter den Zweigen in den Wald hinein. Die Bäume empfingen ihn mit einer Stille, die ihn immer wieder aufs Neue beruhigte. Es war, als hielte der Herrgott seine schützende Hand über die Welt. Morgendliches Sonnenlicht brach durch die Äste und zeichnete Lichtflecken auf das weiche Moos. Hier und da lagen noch Reste von Schnee. Von fern schrie ein Kuckuck, das Summen der Mücken, Bienen und Käfer war ein einziger ewiger Ton. Während Kuisl zielbewusst durch den Wald schritt, blieb er immer wieder an Spinnweben hängen, die sich wie eine Maske über sein Gesicht legten. Das Moos schluckte das Geräusch seiner Schritte. Hier im Wald fühlte er sich wirklich zu Hause. So oft es sich einrichten ließ, ging er hierher, um Kräuter, Wurzeln und Pilze zu sammeln. Es hieß, keiner in Schongau wisse so gut über die Welt der Pflanzen Bescheid wie der Henker.
Das Knacken eines Astes ließ ihn innehalten. Das Geräusch war von rechts gekommen, von der Straße her. Jetzt war ein zweites Knacken zu hören. Irgendjemand näherte sich ihm, und dieser Jemand versuchte sich anzuschleichen. Er stellte sich dabei nicht sonderlich geschickt an.
Jakob Kuisl sah sich um und erblickte den Ast einer Tanne, der bis zu seinem Kopf hinunterreichte. Er zog sichhinauf, bis er im nadligen Geäst verschwunden war. Nach wenigen Minuten kamen die Schritte näher. Er wartete, bis das Geräusch direkt unter ihm war, dann ließ er sich fallen.
Magdalena hörte ihn im letzten Augenblick. Sie warf sich nach vorne und sah beim Zurückblicken, wie ihr Vater direkt hinter ihr auf den Waldboden plumpste. Kurz vor dem Zusammenprall hatte Jakob Kuisl noch gesehen, wer unter ihm war, und sich zur Seite gerollt. Jetzt stand er wütend auf und klopfte sich Schnee und Tannennadeln vom Wams.
»Bist wahnsinnig?«, zischte er. »Was läufst wie ein Strauchdieb durch den Wald? Solltest du nicht oben bei der Mutter sein und ihr beim Mörsern helfen? Störrisches Weibsbild!«
Magdalena schluckte. Ihr Vater war für seine jähen Wutausbrüche bekannt. Trotzdem sah sie ihm fest in die Augen, als sie ihm antwortete.
»Die Mutter hat gesagt, du bist wegen der Stechlin hier. Und da hab ich gedacht, dass ich dir vielleicht helfen könnt.«
Jakob Kuisl lachte laut auf.
»Helfen? Du? Hilf deiner Mutter, das ist Arbeit genug. Und jetzt schleich dich, bevor mir die Hand ausrutscht.«
Magdalena verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich lass mich nicht so einfach von dir wegschicken wie ein kleines Kind. Sag mir wenigstens, was du vorhast. Schließlich hat die Martha auch mich zur Welt gebracht. Seit ich denken kann, hab ich ihr einmal die Woche Kräuter und Salben vorbeigebracht. Und jetzt soll mich ihr Schicksal gar nicht kümmern?«
Der Henker seufzte. »Magdalena, glaub mir, es ist das Beste so. Je weniger du weißt, umso weniger kannst duspäter herumerzählen. Es reicht, dass du mit dem jungen Doktor rumpoussierst. Die Leut tratschen schon genug.«
Magdalena lächelte ihr Kleinmädchenlächeln, mit dem sie ihrem Vater früher immer etwas Süßes abgeluchst hatte.
»Gell, du magst ihn auch, den Simon?«
»Hör auf«, brummte er. »Was macht das schon, ob ich ihn mag. Er ist der Sohn des Doktors, und du bist die Henkerstochter. Also lass die Finger davon. Und jetzt geh heim und hilf der Mutter.«
Magdalena wollte noch nicht aufgeben. Während sie nach Worten rang, streifte ihr Blick durch den Wald. Hinter einem Haselstrauch sah sie plötzlich etwas weiß aufleuchten.
Sollte das etwa ...?
Sie eilte hin und grub eine weiße, sternförmige Blume aus. Mit erdigen Händen reichte sie sie dem Vater. Erstaunt hielt er die kleine Blüte zwischen seinen großen Händen.
»Ein Nieswurz«, sagte er, während er die Blume an seine Nase hielt und roch. »Ich habe hier in der Gegend schon lange keinen mehr gesehen. Du weißt, dass es heißt, die Hexen würden daraus eine Salbe machen, die sie bei Walpurgisnacht fliegen lässt.«
Magdalena nickte. »Die Daubenbergerin aus
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