Die Henkerstochter
hatte ihn nicht mehr losgelassen. Er war sicher, dass sie mehr wusste, als sie zugab. Irgendwie war sie der Schlüssel zu dem Geheimnis, wenn er auch noch nicht erkannte, welche Rolle sie genau darin spielte. Doch als er an dem kleinen Anwesen anlangte, das eingezwängt zwischen zwei größeren Fachwerkhäusern auf einen neuen Anstrich wartete, erwartete ihn eine herbe Enttäuschung. Sophie war hier seit zwei Tagen nicht mehr aufgetaucht. Ihre Stiefeltern hatten keine Ahnung, wo sie sich aufhielt.
»Das Miststück macht, was es will«, murrte der Leinweber Andreas Dangler, bei dem das Mädchen seit dem Tod ihrer Eltern in Pflegschaft war. »Wenn’s da ist, frisst sie uns die Haare vom Kopf, und wenn’s arbeiten soll, treibt sie sich in der Stadt herum. Ich wünschte, ich hätt mich nie auf den Handel eingelassen.«
Simon hätte ihn gerne daran erinnert, dass Dangler für die Pflege von Sophie ein stattliches Salär von der Stadt bekam, doch er beließ es bei einem Kopfnicken.
Andreas Dangler zeterte weiter. »Würde mich nichtwundern, wenn sie mit der Hex unter einer Decke stecken würde«, sagte er und spuckte aus. »Ihre Mutter war auch schon so, die Frau vom Hörmann Hans, dem Gerber. Hat ihren Mann ins Grab gehext und ist dann selber an der Schwindsucht gestorben. Das Kind hat immer gebockt, wollt was Besseres sein und nicht mit uns Leinwebern am Tisch sitzen. Jetzt hat sie ihren Teil!«
Er lehnte am Türrahmen und kaute auf einem Stück Kienspan. »Wenn’s nach mir ginge, dann bräuchte die nie wieder hier auftauchen! Hat sich wahrscheinlich aus dem Staub gemacht, bevor’s ihr so geht wie der Stechlin. «
Während der Leinweber weiter lamentierte, setzte sich Simon auf einen Mistkarren neben dem Haus und atmete tief durch. Er hatte das Gefühl auf der Stelle zu treten. Am liebsten hätte er dem zeternden Dangler ins Gesicht geschlagen. Stattdessen unterbrach er ihn nur in seiner Schimpferei. »Ist dir an der Sophie irgendwas aufgefallen in letzter Zeit? War sie anders?«
Andreas Dangler musterte ihn von oben bis unten. Simon war sich im Klaren darüber, dass er auf den Leinweber wie ein Stutzer wirken musste. Mit seinen hohen Lederstiefeln, dem grünen Samtrock und dem modisch geschnittenen Spitzbart sah er für den einfachen Handwerker aus wie ein verweichlichter Städter aus der fernen Metropole Augsburg. Sein Vater hatte recht. Er war keiner von hier, und er gab sich auch keine Mühe, so zu tun als ob.
»Was schert’s dich, Kurpfuscher?«, fragte Dangler.
»Ich bin bei der Folter der Stechlin der zuständige Medicus«, fabulierte Simon frei drauflos. »Also möchte ich mir ein Bild von ihr machen, damit ich weiß, welche Hexenmächte in ihr wohnen. Also, hat die Sophie von der Stechlin gesprochen?«
Der Leinweber zuckte mit den Schultern. »Sie hat mal gesagt, dass sie Hebamme werden möcht. Und als meine Frau krank war, da hat sie schnell die richtigen Mittel parat gehabt. Die hat ihr wohl die Stechlin gegeben.«
»Und sonst?«
Andreas Dangler zögerte, dann schien er sich an etwas zu erinnern. Er grinste. »Einmal hab ich gesehen, wie sie so ein Zeichen in den Sand hinten im Hof gemalt hat. Als ich sie ertappt hab, hat sie’s schnell weggewischt«, sagte er.
Simon horchte auf.
»Was für ein Zeichen?«
Der Leinweber überlegte kurz, dann nahm er seinen Kienspan aus dem Mund, bückte sich und zeichnete etwas in den Staub.
»So ungefähr sah’s aus«, sagte er schließlich.
Simon versuchte in den verschwommenen Linien etwas zu erkennen. Die Zeichnung zeigte so etwas wie ein Dreieck mit einem Schnörkel am unteren Ende.
Es erinnerte ihn an etwas, aber immer, wenn er sich fast sicher war, verschwand die Erinnerung wieder. Noch einmal sah er auf die Zeichnung im Staub, dann wischte er mit dem Fuß darüber und ging hinunter Richtung Fluss. Er hatte heute noch ein weiteres Ziel.
»He! «, rief ihm der Dangler hinterher. »Was heißt das Zeichen denn jetzt? Ist sie eine Hex? «
Simon ging schneller. Schon bald war das Rufen des Leinwebers im morgendlichen Lärm der Stadt untergegangen. Von fern dröhnte das Hämmern aus der Schmiede herüber, Kinder trieben eine Schar schnatternder Gänse vor sich her.
Schon nach wenigen Minuten hatte der Medicus das Hoftor erreicht, das direkt neben der kurfürstlichen Residenz lag. Hier waren die Häuser gediegener, man bauteausschließlich mit Stein. Außerdem lag weniger Unrat auf den Straßen herum. Das Hoftorviertel war das Viertel der angesehenen
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