Die Henkerstochter
Handwerker und Flößer. Wer es zu etwas gebracht hatte, zog in diese Gegend, weit weg von der stinkenden Gerbersiedlung am Fluss oder dem Metzgviertel mit seinen gewöhnlichen Färbern und Kistlern weiter östlich. Simon grüßte kurz den wachhabenden Torwärter und ging weiter Richtung Altenstadt, das nur eine Meile nordwestlich von Schongau lag.
Obwohl die Sonne jetzt im April und zu der frühen Uhrzeit noch sanft vom Himmel schien, stach sie dem Medicus in die Augen. Sein Kopf schmerzte, sein Gaumen fühlte sich trocken an. Der Kater vom gestrigen Besäufnis mit Jakob Schreevogl machte sich wieder bemerkbar. An einem Bach am Rande des steilen Wegs bückte er sich, um zu trinken. Als ein mit Fässern bepackter Pferdewagen der Rottfuhrleute an ihm vorüberdonnerte, sprang er geistesgegenwärtig hinten auf und kletterte auf die verzurrten Fässer. Ohne dass ihn der Fuhrmann bemerkte, gelangte er so kurze Zeit später nach Altenstadt.
Sein Ziel war der Strasser-Wirt, das Wirtshaus in der Mitte des Dorfes. Bevor Simon gestern Abend zu den Schreevogls gegangen war, hatte ihm der Henker noch fünf Namen genannt. Es waren die Namen der Kinder, die bei der Stechlin ein und aus gegangen waren: Grimmer, Kratz, Schreevogl, Dangler und Strasser. Zwei waren tot, zwei vermisst. Blieb das letzte Mündel, das des Strasser-Wirts in Altenstadt.
Simon öffnete die niedrige Holztür der Gaststube, ein Geruch aus Kohl, Rauch, altem Bier und Urin schlug ihm entgegen. Der Strasser war das einzige Wirtshaus im Ort. Wer etwas Besseres suchte, ging nach Schongau. Hier kehrte man ein, um zu trinken und zu vergessen.
Simon ließ sich auf einem Holzschemel neben einen mit Messerstichen verzierten Tisch nieder und rief nach einem Bier. Zwei Fuhrleute, die um diese frühe Uhrzeit bereits an ihren Krügen nippten, blickten argwöhnisch zu ihm herüber. Der Wirt, ein glatzköpfiger, feister Mann mit Lederschürze, schlurfte mit einem schäumenden Humpen an seinen Tisch und schob ihm das Gebräu zu.
»Wohl bekomm’s«, murmelte er und wollte zurück zur Theke gehen.
»Setzt Euch«, sagte Simon und deutete auf den leeren Schemel neben seinem.
»Ich kann jetzt nicht, hab Kundschaft, siehst doch.« Der Wirt drehte sich wieder um. Doch Simon hielt ihn am Arm fest und zog ihn sanft zu sich herunter.
»Setzt Euch, bitte«, wiederholte er. »Wir müssen reden. Es geht um Euer Mündel.«
Der Strasser-Wirt blickte sich vorsichtig zu den Fuhrleuten um, die jedoch in ein Gespräch vertieft schienen. »Den Johannes?«, flüsterte er. »Habt’s ihn gefunden?«
» Ist er denn weg? «
Franz Strasser ließ sich seufzend neben den Medicus auf einen Stuhl sinken. »Seit gestern Mittag. Er sollte nach den Pferden im Stall schauen. Dann ist er nicht mehr aufgetaucht. Hat sich wahrscheinlich aus dem Staub gemacht, der Sauhund.«
Simon blinzelte. Das Wirtshaus war nur schwach erleuchtet, die geschlossenen Fensterläden ließen kaum Licht ein. Ein Kienspan am Fenstersims glimmte matt vor sich hin.
»Seit wann ist der Johannes bei Euch in der Lehre?«, fragte er den Wirt.
Franz Strasser überlegte. »Seit gut drei Jahren«, sagte er schließlich. »Die Eltern stammten hier aus Altenstadt,gute Leut, aber schwach auf der Brust. Sie starb im Wochenbett. Der Vater ist ihr nur drei Wochen später ins Grab gefolgt. Der Johannes war der jüngste, ich hab ihn zu mir genommen. Er hat’s immer gut gehabt, so wahr mir Gott helfe!«
Simon nippte an seinem Humpen. Das Bier schmeckte dünn und schal.
»Ich hab gehört, er war oft drüben in Schongau?«, erkundigte er sich weiter.
Strasser nickte. »Das stimmt. Jede freie Stunde ist er nach drüben. Weiß der Teufel, was er da getrieben hat.«
»Und wo er hingegangen sein könnte, habt Ihr auch keine Ahnung?«
Der Wirt zuckte mit den Schultern. »Vielleicht in sein Versteck.«
»Versteck?«
»Da ist er schon ein paar Mal über Nacht geblieben«, sagte der Strasser. »Immer wenn ich ihm gehörig den Rücken eingerieben hab, weil er wieder was ausgefressen hatte, ist er in sein Versteck. Hab ihn mal versucht auszuhorchen, aber er hat nur gesagt, das findet keiner, da sei er sogar vor dem Teufel sicher.«
Simon nippte gedankenverloren weiter am Bier. Der Geschmack war ihm plötzlich nicht mehr so wichtig.
»Kannten denn noch andere dieses ... Versteck?«, fragte er vorsichtig.
Franz Strasser runzelte die Stirn. »Mag sein«, sagte er. »Er hat ja auch mit anderen Kindern gespielt. Einmal haben sie mir hier eine
Weitere Kostenlose Bücher