Die Henkerstochter
würden aus der Stadt verstoßen, er müsste sein Geld als fahrender Bader verdienen oder betteln gehen.
Auf der anderen Seite ... Martha Stechlin hatte seinen Kindern das Leben geschenkt, er war von ihrer Unschuld überzeugt. Wie konnte er diese Frau foltern?
Sein Gang endete in der Kammer am Apothekerschrank.Die Truhe daneben stand offen, hier verwahrte der Henker seine wichtigsten Bücher. Ganz oben lag schon leicht vergilbt und abgegriffen das Kräuterbuch des griechischen Arztes Dioscorides, ein uraltes Werk, das immer noch seine Gültigkeit hatte. Einer plötzlichen Eingebung folgend nahm sich der Henker das Buch und fing an darin herumzublättern. Wie so oft bewunderte er die genauen Zeichnungen und Notizen, in denen Hunderte von Pflanzen exakt beschrieben waren. Jedes Blatt, jeder Stängel war genau getroffen.
Mit einem Mal hielt er inne, seine Finger fuhren über einige Zeilen, er begann zu murmeln. Schließlich breitete sich ein Grinsen über sein Gesicht aus. Er eilte nach draußen, im Vorübergehen griff er nach Mantel, Hut und Sack.
»Wo willst denn hin?«, rief ihm seine Frau hinterher. »Nimm wenigstens noch einen Bissen Brot mit! «
»Kann jetzt ned!«, rief er, schon draußen im Garten. »Die Zeit drängt! Schür den Ofen, ich bin bald wieder da! «
»Aber Jakob ... «
Doch ihr Mann schien sie schon nicht mehr zu hören. Im gleichen Moment kam Magdalena mit den Zwillingen die Stiege herunter. Barbara und Georg gähnten. Das Schreien und Poltern des Vaters hatte sie aufgeweckt. Jetzt waren sie hungrig.
»Wo will der Vater hin?«, fragte Magdalena und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
Anna Maria Kuisl schüttelte den Kopf. »Ich weiß es ned, ich weiß es wirklich ned«, sagte sie, während sie den Kleinen Milch in einen Topf am Herd schüttete. »Er hat im Kräuterbuch geblättert, und dann ist er wie von der Hummel gestochen rausgerannt. Es muss etwas mit der Stechlin zu tun haben.«
»Mit der Stechlin? «
Mit einem Mal war Magdalena hellwach. Sie sah ihrem Vater nach, der gerade hinter den Weiden unten am Weiher verschwand. Ohne weiter nachzudenken, packte sie sich den letzten Kanten Brot vom Tisch und rannte ihm hinterher.
»Magdalena, bleib da!«, rief ihre Mutter.
Als sie sah, wie ihre Tochter mit langen Schritten dem Weiher zueilte, schüttelte sie den Kopf und ging wieder hinein zu den Kindern.
»Ganz der Vater«, murmelte sie. »Wenn das nur kein Unglück bringt ...«
Simon erwachte durch ein Pochen an seiner Schlafkammertür. Schon im Traum hatte es ihn verfolgt. Jetzt, als er die Augen öffnete, merkte er, dass es kein Traum war, sondern die Wirklichkeit. Er blickte zum Fenster. Draußen herrschte noch Dämmerung. Verschlafen rieb er sich die Augen. Er war es nicht gewohnt, so früh geweckt zu werden, gewöhnlich schlief er mindestens bis zum Acht-Uhr-Läuten.
»Was ist?«, krächzte er Richtung Tür.
»Ich bin’s, der Vater! Mach auf, wir müssen reden!«
Simon seufzte. Wenn sein Vater sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte man ihn nur schwer wieder davon abbringen.
»Wart einen Moment!«, rief er. Er schwang sich auf die Bettkante, wischte sich die schwarzen Strähnen aus dem Gesicht und versuchte zu Bewusstsein zu kommen.
Nach dem gestrigen Aufruhr hatte er Jakob Schreevogl noch nach Hause begleitet. Der junge Ratsherr brauchte Trost und jemanden zum Zuhören. Bis in die Morgenstunden hatte er Simon von Clara erzählt. Von ihrem lieben,aufmerksamen Wesen, und dass sie so aufmerksam und wissbegierig sei, viel mehr noch als ihre manchmal trägen Stiefschwestern und Stiefbrüder. Fast kam es Simon so vor, als würde Jakob Schreevogl das Mündel Clara noch mehr lieben als seine eigenen Kinder.
Maria Schreevogl hatte von dem jungen Medicus ein starkes Schlafmittel und eine gehörige Portion Branntwein verabreicht bekommen und war bald darauf ins Bett gegangen. Nicht ohne vorher von Simon getröstet zu werden, dass Clara sicher bald wieder auftauchen würde.
Der restliche Branntwein war in die Kehlen von Simon und Jakob Schreevogl gewandert. Am Ende hatte der Ratsherr ihm alles über sich erzählt, über seine Sorgen mit der oft schweigsamen, vergrämten Ehefrau und über seine Ängste, das Geschäft seines jüngst verstorbenen Vaters nicht gewinnbringend weiterführen zu können. Der alte Schreevogl war bekannt gewesen als skurriler Kauz, aber auch als sparsam und schlau; er hatte seine Leute gut im Griff gehabt. In die Fußstapfen eines solchen Vaters zu
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