Die Herren der Unterwelt 01 - Schwarze Nacht
brachte er sie zum Bett, riss ihr die nasse Jacke vom Leib und warf sie beiseite. Obwohl er sie nicht loslassen wollte, legte er sie auf die Matratze und nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. Ihre Haut war eiskalt. „Ashlyn.“
Noch immer keine Reaktion.
War sie etwa … Nein. Nein! Bleikugeln lagen ihm im Magen, als er seine flache Hand auf ihre linke Brust legte. Zuerst spürte er nichts. Weder ein zaghaftes Klopfen noch ein heftiges Hämmern. Dann, plötzlich, war da ein schwaches Pochen. Eine lange Pause. Noch ein Pochen.
Sie lebte.
Er schloss kurz die Augen und ließ erleichtert die Schultern hängen. „Ashlyn.“ Er schüttelte sie sanft. „Komm, meine Schöne. Wach auf.“ Was in Zeus’ Namen war los mit ihr? Er hatte zwar keinerlei Erfahrung mit betrunkenen Sterblichen, aber er hatte das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte.
Ihr Kopf fiel zur Seite; ihre Augenlider blieben geschlossen. Ihre Lippen waren hübsch, aber unnatürlich blau. Schweiß lief an ihren Schläfen hinab. Sie war nicht einfach nur betrunken. War sie während der Nacht im Kerker krank geworden? Nein, das hätte er schon vorher bemerkt. Hatte Torin sie versehentlich berührt? Sicher nicht. Sie hustete nicht, und es waren auch keine Pocken zu sehen. Aber was war es dann?
„Ashlyn.“ Ich darf sie nicht verlieren. Noch nicht. Er hatte noch nicht genug von ihr, hatte sie noch nicht berührt und noch nicht mit ihr gesprochen. Er blinzelte überrascht, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass er mit ihr sprechen wollte. Er wollte sich nicht nur an ihrem Körper berauschen, und sie nicht nur ausfragen, sondern reden. Sie kennenlernen und herausfinden, was sie zu der Frau gemacht hatte, die sie war.
Jegliche Mordgedanken waren verschwunden; stattdessen grübelte er, wie er sie retten konnte.
„Ashlyn. Sprich mit mir.“ Von Neuem rüttelte er sie leicht. Hilflos wie er war, wusste er nicht, was er sonst machen sollte. Doch ihr Körper blieb so kalt, als hätte sie in Eis gebadet und sich von einem arktischen Wind trocknen lassen. Er zog die Bettdecke hoch und stopfte sie an den Seiten fest, um sie irgendwie aufzuwärmen. „Ashlyn. Bitte.“
Er sah, wie sich unter ihren Augen Blutergüsse bildeten. War das seine Strafe? Ihr dabei zuzusehen, wie sie langsam und qualvoll starb?
Das Gefühl der Hilflosigkeit wuchs. Hier half ihm all seine Muskelkraft nicht. Er schaffte es einfach nicht, sie zum Sprechen zu bringen. „Ashlyn.“ Diesmal war ihr Name ein heiseres Flehen. Er schüttelte sie noch einmal, so fest, dass es einen Toten hätte wecken können. „Ashlyn.“
Verdammt. Immer noch nichts.
„Lucien!“, schrie er, ohne den Blick von ihr abzuwenden. „Aeron!“ Doch er war so weit von ihnen entfernt, dass sie ihn vermutlich nicht hörten. „Helft mir!“ Ob Ashlyn nach Hilfe gerufen hatte? Maddox beugte sich zu ihr hinunter, presste seine Lippen auf ihre und versuchte, ihr Leben einzuhauchen. Er spürte Wärme … ein Kribbeln …
Ihre bläulichen Lippen öffneten sich, und sie stöhnte. Endlich. Ein Lebenszeichen. Fast hätte er vor Erleichterung aufgeheult. „Sprich mit mir, meine Schöne.“ Er strich ihr die nassen Haare aus dem Gesicht, wobei er verdutzt feststellte, dass seine Hand zitterte. „Sag mir, was du hast.“
„Maddox“, krächzte sie. Die Augen hielt sie geschlossen.
„Ich bin hier. Sag mir, wie ich dir helfen kann. Sag mir, was du brauchst.“
„Töte sie. Töte die Spinnen.“ Sie sprach so leise, dass er sie kaum verstehen konnte.
Er streichelte ihr über die Wange, während er sich im Zimmer umsah. „Hier sind keine Spinnen, meine Schöne.“
„Bitte.“ Eine kristallklare Träne quoll unter ihrem Augenlid hervor. „Sie krabbeln die ganze Zeit auf mir herum.“
„Ja, gut, ich töte sie.“ Obwohl er kein Wort verstand, fuhr er ihr mit den Händen übers Gesicht, über den Hals, die Arme, den Bauch und die Beine. „Jetzt sind sie tot. Sie sind tot. Ich schwöre es.“
Das schien sie ein wenig zu beruhigen. „Essen, Wein. Gift?“
Ihm wich die Farbe aus dem Gesicht, bis er beinahe so blass war wie Ashlyn. Wie hatte er das nur vergessen können… Der Wein war für sie gemacht, die Krieger, und nicht für Menschen. Da normaler Alkohol bei ihnen kaum Wirkung zeigte, gab Paris oft einige Tropfen Ambrosia hinzu, die er im Himmel gestohlen und all die Jahre gehortet hatte. Wirkte Ambrosia bei Menschen wie ein Gift?
Ich bin schuld, dachte Maddox entsetzt. Ich. Nicht die Götter.
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