Die Herren der Unterwelt 01 - Schwarze Nacht
an ihrer Unterlippe. „Ja?“
„Habe ich dir wehgetan?“ Schlimmer: „Bereust du es?“
„Nein und nein.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln, das in den dunklen Winkeln der Nacht wie die Sonne strahlte.
„Wie kommt es, dass du noch Jungfrau bist?“ Er war immer noch ganz benommen.
Langsam erstarb ihr Lächeln. Stattdessen trübte die Scham ihre Augen und verdunkelte sie zu einem schäumenden, schwarzen Sturm. „Ich möchte nicht darüber reden.“
„Bitte.“
Sie schielte auf ihre Füße, um ihre Gefühle – den Sturm – zu verbergen. „Ich hätte dir niemals sagen sollen, dass du mich lieber um etwas bitten sollst als es einzufordern. Das ist unwiderstehlich!“
Das musste er sich merken.
„Vielleicht hätte ich es dir früher sagen müssen, bevor wir … Aber …“
Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Müsste er ihr Geständnis nicht eigentlich hören wollen, egal was es war? Ja. Und wollte er es? Nein. Nicht jetzt. Er stellte das Wasser ab und drängte sie gegen die Fliesen. Er konnte nicht voraussagen, wie der Dämon darauf reagieren würde, dass dieses sinnliche, wunderschöne Geschöpf ihn verraten wollte. „Ashlyn …“
„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Lass mich ausreden. Versprich mir nur, dass du mich danach nicht hasst, okay? Dass du versuchst zu verstehen, dass ich nichts dafür kann.“ Pause. Stockendes Einatmen. „Also: Du bist nicht der Einzige, der von etwas besessen ist, das er nicht kontrollieren kann. Ich höre Stimmen. Wenn ich an einem Ort stehe, wo eine Unterhaltung geführt wurde, höre ich jedes Wort, das gesprochen wurde, ganz egal, wie viel Zeit seitdem vergangen ist.“ Sie vermied es, ihn anzusehen, während sie sprach.
Maddox hörte gebannt zu. Noch hatte sie nicht zugegeben, zu den Jägern zu gehören oder zu den Göttern oder an einer Blutrache beteiligt zu sein, die gegen ihn geführt wurde. Sie hatte ihm nur gestanden, dass sie Stimmen hörte. Tief im Innern war er von der Aufrichtigkeit ihrer Worte überzeugt. Ihre Erklärung war zu kompliziert und zu leicht zu widerlegen. Ein echter Köder hätte sich eine Rechtfertigung ausgedacht, die weniger anfechtbar war. Außerdem ergab alles, was sie sagte, einen Sinn. Dadurch fielen viele Puzzleteile aus der vergangenen Nacht an ihren Platz.
Es bedeutete, dass sie tatsächlich versucht hatte, ihn zu beschützen. Und zwar nicht aus niederen Beweggründen, sondern aus Überzeugung. Er war erstaunt. Erstaunt, erleichtert und froh.
Jetzt verstand er, warum sie nicht am Boden zerstört gewesen war, als sie erfuhr, dass er diese Männer getötet hatte. Höchstwahrscheinlich hatte sie sie gar nicht gekannt. Wie vermutet, hatten sie versucht, sie zu entführen, um sich ihre Gabe zunutze zu machen.
Ihm juckte es in den Fingern. Er wollte sie alle umbringen. Beruhige dich. Trotzdem – vielleicht hatten die Männer ohne Ashlyns Wissen für das Institut gearbeitet. Nein, das war unmöglich. Dann hätten sie sich ihr zu erkennen gegeben. Immerhin waren sie dicht genug gewesen, um sie zu hören und zu sehen.
„Warum hattest du Angst, ich würde dich hassen?“, wollte er wissen.
„Ich höre Geheimnisse“, flüsterte sie. „Da ist es schwer, Freunde zu finden. Diejenigen, die von meinem Talent wissen, wollen nichts mit mir zu tun haben, und die Leute, die nichts davon wissen, haben keine Ahnung, wie sie mit mir umgehen sollen.“
Die Einsamkeit, die in ihrer Stimme mitschwang, berührte ihn tief. Er verstand sie. Doch selbst ihm gefiel der Gedanke nicht, dass sie wusste – hörte – welch grässliche Dinge er über all die Jahre getan hatte. „Was weißt du von meinen Geheimnissen?“ Er versuchte, unbekümmert zu klingen, aber es gelang ihm nicht recht.
„Nichts. Ich schwöre es.“ Sie sah ihn mit großen Augen an. „Wenn ich in deiner Nähe bin, ist die Welt still.“
Das hatte sie schon einmal gesagt. Er erinnerte sich an ihren Gesichtsausdruck, als er ihr das erste Mal begegnet war. Absolute Glückseligkeit. Sie hatte die Stille ausgekostet, genauso wie sie behauptet hatte. Die Erkenntnis verblüffte und demütigte ihn. Aber sie erfüllte ihn auch mit einem gewissen Stolz. Er hatte ihr geholfen. Er, dem es nicht gelang, sich von seinen eigenen Qualen zu befreien, hatte irgendwie einen anderen von den seinen befreit.
„Du sagst, du hörst Geheimnisse. Was hast du über uns gehört?“
„Das habe ich dir doch schon gesagt. Die meisten Stadtbewohner halten euch für Engel. Einige bezeichnen euch
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