Die Herren der Unterwelt 05 - Schwarze Leidenschaft
Neuem wurden seine Augen größer. Zwischen ihren Schulterblättern, dort, wo eigentlich die Flügel hätten hervorragen sollen, prangten zwei lange, tiefe Wunden, in denen zerrissene Sehnen und Muskeln zu sehen waren. An einigen Stellen schimmerten sogar die Knochen durch. Diese Wunden sahen grausam und unbarmherzig aus, und noch immer sickerte Blut aus ihnen heraus. Ihm waren selbst einmal gewaltsam die Flügel entfernt worden, und das war die schmerzhafteste Verletzung seines langen Lebens gewesen.
„Was ist passiert?“ Dass er so heiser war, irritierte ihn.
„Ich bin gefallen“, erwiderte sie mit kehliger Stimme, die vor Scham troff. Sie barg das Gesicht im Kissen. „Ich bin kein Engel mehr.“
„Aber warum?“ Da er noch nie einem Engel begegnet war – abgesehen von Lysander, aber der Bastard zählte nicht, weil er sich weigerte, mit den Herren über relevante Themen zu sprechen –, wusste Aeron nicht viel über ihre Spezies. Er wusste nur so viel, wie Legion ihm erzählt hatte, und die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Hass auf diese Wesen ihre Berichte verzerrte, war ziemlich hoch. Keine ihrer Darstellungen passte zu der Frau auf seinem Bett.
Engel, hatte Legion gesagt, seien gefühllose, seelenlose Kreaturen mit nur einem Ziel: ihre dunklen Pendants, die Dämonen, zu vernichten. Sie hatte außerdem behauptet, dass dann und wann ein Engel der Fleischeslust erläge – fasziniert von genau den Wesen, die er – oder sie – eigentlich hassen sollte. Dieser Engel würde umgehend in der Hölle landen, wo die Dämonen, die er einst besiegt hatte, endlich ein wenig Rache üben könnten.
War das dieser Engelsfrau passiert, fragte Aeron sich. Ein Trip in die Hölle, wo die Dämonen sie gefoltert hatten? Möglich.
Sollte er sie losbinden? Ihre Augen wirkten so … arglos und unschuldig. Als sagten sie: Hilf mir. Und: Rette mich.
Aber vor allem sagte ihr Blick: Halt mich fest, und lass mich nie mehr los!
Auf so eine Unschuldsnummer bin ich schon einmal hereingefallen, dachte er und hielt sich gerade noch rechtzeitig zurück. Auch Baden war von einer Frau in die Falle gelockt worden – und gestorben.
Ein kluger Mann bringt zunächst mehr über eine Frau in Erfahrung, beschloss er.
„Wer hat dir die Flügel genommen?“ Die Frage entfuhr ihm wie ein grantiges Bellen, und er nickte zufrieden.
Sie schluckte, erschauderte. „Als ich hinabgeworfen wurde …“
„Aeron, du Vollidiot“, ertönte eine Männerstimme, die sie zum Schweigen brachte. „Sag mir, dass du nicht …“ Paris stob in sein Schlafzimmer, blieb jedoch abrupt stehen, als er Olivia sah. Er kniff die Augen zusammen und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. „Aha. Dann stimmt es also. Du bist wirklich rausgeflogen und hast sie geholt.“
Olivia rührte sich nicht und hielt ihr Gesicht weiterhin abgewandt. Ihre Schultern zuckten, als ob sie weinte. Hatte sie schließlich doch Angst? Jetzt?
Warum? Frauen verehrten Paris.
Konzentrier dich. Aeron brauchte nicht zu fragen, woher Paris wusste, was er getan hatte. Torin, Hüter der Krankheit, überwachte die Burg samt dem Hügel, auf dem sie thronte, achtundzwanzig Stunden am Tag, neun Tage die Woche (so wirkte es zumindest). „Ich dachte, du wolltest die anderen holen.“
„Torin hat mir eine Nachricht aufs Handy geschickt, und ich bin zuerst zu ihm gegangen.“
„Und was hat er dir über sie erzählt?“
„Flur“, sagte sein Freund und wies mit einer knappen Kopfbewegung in Richtung Tür.
Aeron schüttelte den Kopf. „Wir können hier über sie reden. Sie ist kein Köder.“
Erneut fuhr Paris sich mit der Zunge über die ebenmäßigen weißen Zähne. „Und ich dachte immer, ich wäre dämlich, wenn es um Frauen geht. Woher weißt du, was sie ist? Weil sie es dir gesagt hat und du ihr einfach glauben musstest?“ Sein Ton war spöttisch.
„Sie ist ein Engel, du Tyrann! Der Engel, der mich beobachtet hat.“
Diese Worte wischten den Hohn von Paris’ Gesicht. „Ein richtiger Engel? Aus dem Himmel?“
„Ja.“
„Wie Lysander?“
„Ja.“
Ganz langsam musterte Paris sie von Kopf bis Fuß. Als Frauenkenner, der er war – zumindest früher einmal –, wusste er vermutlich alles über ihren Körper, als er fertig war. Die Größe ihrer Brüste, die Rundung ihrer Hüfte, die genaue Länge ihrer Beine. Das störte Aeron überhaupt nicht. Sie bedeutete ihm nichts. Nichts als Ärger.
„Was auch immer sie ist“, sagte Paris und klang weit weniger verärgert als zuvor,
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