Die Herren der Zeit
morsch und bröselig zu ihren Füßen, und wenn ein Stein unter ihren Tritten zu Boden kollerte, dann dauerte es lange, bis man etwas von einem Aufschlag hörte, wenn überhaupt. Sie hatten kein Seil, um sich zu sichern, aber selbst wenn sie eines gehabt hätten und Haken dazu, so bot die Steinwand, von Winterfrösten und Sommerhitze zermürbt, keinen festen Halt. Der Wind zerrte an ihren Kleidern, und als sie, da der Pfad nach Westen bog, aus der Sonne in den Schatten traten, war er eisig kalt. Gwrgi zitterte so sehr, dass Ithúriël befürchtete, er würde allein deshalb irgendwann den Halt verlieren und in die Tiefe stürzen. Sie wusste, wenn sie nicht bald eine geschützte Stelle erreichten, würde das Heulen des Windes ihr Todesgesang sein.
Der Wind kam von Norden her. Nur ein einziges Mal war es Ithúriël gelungen, den Blick dorthin zu wenden. Der Eiseshauch, der sie traf, war so kalt, dass sie glaubte, ihre Augäpfel müssten gefrieren. Über dem weiten Land lag eine Aura der Finsternis, gleich einer dräuenden Wolke, aus der hier und da Blitze zuckten. Sie spürte eine Präsenz am Rande ihres Bewusstseins, eine Macht, die im Augenblick zwar schlief, aber jederzeit erwachen mochte. Sie hatte keine Zeit, dem Aufmerksamkeit zu schenken.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als Gwrgis Griff plötzlich fester wurde.
»D-d-da!«
Er zeigte mit seiner zitternden Hand. Dann sah sie es auch. Ein schwarzes Loch in den Felsen. Kein Tor zu einer anderen Welt, nur eine Höhle, die Unterschlupf bot. Vielleicht konnten sie dort eine Weile ausruhen und abwarten, bis sich der schlimmste Sturm gelegt hatte.
Das Geheul des Windes war wie abgeschnitten, als sie schließlich in die Höhle hineintaumelten. Nach der Grelle des Tages dauerte es einen Moment, bis sich die Augen an die Düsternis im Inneren gewöhnt hatten.
An einer der Seitenwände gab es eine Feuergrube; hier hatten offenbar gelegentlich Bergwanderer Station gemacht. Doch von irgendwelchen Vorräten oder Gerätschaften war nichts zu sehen. Der hintere Teil der Höhle lag in tiefer Düsternis. Darin gähnte ein schwarzes, kreisrundes Loch.
Ithúriël trat darauf zu. Das Loch war von einer kreisrunden Platte verschlossen gewesen, die jetzt neben dem Durchgang lehnte. Hatte jemand vergessen, sie wieder davorzurollen, oder war dies mit Absicht geschehen?
Sie machte Anstalten, durch die Öffnung zu steigen, als Gwrgi sie am Mantel packte. Er wirkte aufgeregt. »Nein«, gurgelte er, »Neiiiin …«
»Keine Angst«, sagte sie zu ihm. »Ich geh da allein rein. Du wartest hier.«
Das Innere der zweiten Höhle war kahl bis auf einen Vorsprang an der Rückwand. Es war eine Art Altar, aus dem gewachsenen Fels herausgehauen und mit dem Meißel geglättet. Darauf standen zwei Figuren. Sie waren nur grob ausgearbeitet, fast primitiv. Die eine war männlich, kräftig und gedrungen. Sie hatte einen langen Bart und in der Hand etwas, das ein Hammer oder eine Axt sein mochte. Die andere war von gleicher Größe, mit breit ausladenden Hüften und großen, schlaffen Brüsten: die Gestalt einer Frau, die schon über das Alter hinaus ist, in dem sie Kinder geboren hat.
»Herrin«, betete die Elbenprinzessin, »Göttin in der dreifachen Gestalt, Jungfrau, Mutter und Greisin: Hilf mir in meiner Not. Wende du und dein göttlicher Herr, der dir allzeit zur Seite steht, alles, was die dunkle Macht verdorben hat, am Ende wieder zum Guten.«
Sie spürte etwas über ihrem Herzen, das sie erwärmte, eine Kraft, die in alle ihre Glieder ausstrahlte. Der Frost, der bis in ihre Knochen vorgedrungen war, schmolz unter den Strahlen dieser inneren Sonne dahin, und sie fühlte sich mit einem Mal nicht nur von Wärme, sondern auch mit neuem Mut erfüllt.
Sie wusste, was es war. Sie hatte es fast schon vergessen, in den Wirren der Zeit. Es war jenes Erbstück aus längst vergangenen Tagen, seit Jahrhunderten bewahrt für den Tag, da sein Herr zurückkehren würde, um es erneut in Kraft zu setzen.
Sie zog den Ring hervor, der an einer Kette um ihren Hals hing, Kristall auf bloßer Haut. Wie von selbst löste er sich von der Kette und glitt auf ihren Finger.
Ein Licht glomm darin auf. Es erhellte die kleine, runde Kammer und den Altar mit den beiden Idolen. In seinem Schein schienen die Figuren ihr zuzuwinken und zu sagen: Recht getan, Tochter.
Ein Tumult vom Eingang der Höhle schreckte sie auf. Gwrgi schrie: »Herrin! Herrin, hilf!« Gestalten drangen in die äußere Höhle ein,
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