Die Herren der Zeit
begleitet von dem Knirschen und Kollern des Gerölls. Ein unterdrückter Fluch, den er nicht verstand. Und dann, als die jagenden Wolken einen Augenblick aufbrachen, erhaschte er einen Blick auf ihren Verfolger. Und wenn auch das fahle Licht keine Farben erkennen ließ, so waren doch das Wuschelhaar der kleinen Gestalt und ihre spitzen Ohren unverkennbar.
»Aldo?«
»Herr … Herr Kim!« Der junge Ffolksmann keuchte, während er sich verzweifelt bemühte, auf dem rutschenden Grund nicht den Halt zu verlieren. »Wartet … auf mich!«
Es dauerte nicht lange, dann war Aldo heran. Er war ganz außer Atem.
»Jetzt weiß ich endlich …«, schnaufte er, »warum … meine Familie … Kreuchauff heißt.«
Kim sah ihn mit einem leichten Tadel im Blick an. »Ach, Aldo! Wieso bist du mir nachgelaufen?«
»Jetzt, da ich Euch wiedergefunden habe, Herr Kim … ich meine, da konnte ich Euch doch nicht so einfach wieder gehen lassen.«
»Aber dorthin, wohin ich gehe, da kannst du mir nicht folgen, Aldo.«
»Ich weiß, was Ihr wollt, Herr«, sagte Aldo trotzig. »Ihr wollt den Ring in Sicherheit bringen, wegen des Fluchs. Obwohl ich nicht sehen kann, wie.«
»Er«, sagte Kim mit einem Wink zu Gwrgi, »meint, er kennt einen Weg.«
»Über den Gletscher?«
Gwrgi grinste. »Kommt«, sagte er.
Er wandte sich ab, um die Moräne hochzukraxeln. Kim und Aldo warfen sich einen Blick zu, in dem sich Verwunderung mit Unverständnis mischte. Aber irgendwie machte sie das zu Verbündeten.
»Also gut«, sagte Kim, »Dann komm.«
Der Untergrund des Moränenwalls war schlammig und voller Geröll und Schutt, den der Gletscher auf seinem langsamen Weg ins Tal im Laufe der Jahrhunderte mit sich geschleift hatte. Dahinter erhob sich bläulich fahl das Eis. Durch zahlloses Auftauen und Gefrieren – körnig gewordener Altschnee war zu Firn geworden – hatte sich Schicht um Schicht gelagert und war schließlich in bizarren Formen zu Gletschereis erstarrt. Was von der Ferne wie eine kompakte Masse gewirkt hatte, löste sich aus der Nähe in Schroffen und Schrunde auf, scharfkantig, von tiefen Spalten durchzogen. Selbst in der Graue des Morgens schien es von innen heraus zu leuchten, als habe es das Licht unzähliger Tage in sich gespeichert und gebe es nur allmählich wieder frei. Ja, man konnte meinen, wenn man nur lange genug darauf starrte, würde es die Bilder vergangener Zeiten, die es aufgenommen hatte, widerspiegeln und so Wesen zum Leben erwecken, die längst schon nicht mehr auf Erden wandelten. »Hier«, sagte Gwrgi.
Er wies auf eine Spalte, die sich tiefer als die anderen in das Eis hineinzuerstrecken schien.
Kim und Aldo schauten ungläubig. »Dort hinein?«
»Hinein – und durch!«
Sie folgten ihm und betraten einen Palast aus Eis.
Rings umgab sie schimmernder Kristall, wie geschliffenes Glas. In den Tiefen, wo der Blick in der Bläue verdämmerte, tropfte und wirkte und arbeitete es, als befänden sie sich im Bauch eines riesigen Tieres, eines kristallenen Schwamms, der Wasser aufsaugte, verdaute und wieder von sich gab. Ein riesiges, denkendes, atmendes Wesen, das nicht aus Fleisch und Blut und Knochen aufgebaut war, sondern aus Eis und Wasser und Felsgestein. Und das ganz eigenen Gesetzen folgte, das nicht in Jahren dachte, sondern in Jahrhunderten.
Nach wenigen Schritten durch das eisige Labyrinth waren Kim und Aldo hoffnungslos verloren. Der Weg wand sich hierhin und dorthin, auf- und abwärts, über Brücken und durch Tunnels hindurch, über Eisfälle und vorbei an riesigen Findlingen, die der Gletscher sich auf seinem langen Marsch einverleibt hatte. Die scharfkantigen, einer eigenen Geometrie folgenden Spalten und Gänge, in denen alles erlaubt zu sein schien außer dem rechten Winkel, führten immer tiefer hinein in das Herz des Eises. Und allmählich versickerte selbst das Licht, das in diese eisigen Tiefen gedrungen war, und Dunkelheit breitete sich aus.
Dann ging die Sonne auf. Ihr Schein erfüllte den kristallenen Palast mit Glanz. Schimmernd wie Achat, irisierend wie Opal, schillernd wie Seifenblasen – in allen Farben des Regenbogens blühte es auf: rot und orange, gelb und grün, blau und violett. Es war so schön, dass einem beim Anblick die Augen tränten.
»Weiter!«, sagte Gwrgi.
Mit dem Licht der Sonne erwachte das Eis zum Leben. Wasser, das vorher nur getropft hatte, plätscherte nun. Es knackte und knirschte in den Spannungszonen. Irgendwo in der Ferne löste sich ein Stück vom Rand, als das
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