Die Herren der Zeit
und verwelkt. Und seine Augen brannten in einem alles versengenden Feuer. »Komm zu mir!«
Er konnte dem Zwang dieser Stimme nicht widerstehen. Er musste diesem Ruf folgen, ob er wollte oder nicht. Seine Beine versagten ihm den Dienst, und er fiel auf die Knie nieder, doch selbst jetzt zog ihn die Stimme magisch an. Auf allen vieren kroch er weiter, bis seine Hände aufgerissen waren und seine Knie bluteten. Aber an dem Punkt, an dem er angelangt war, machte auch dies keinen Unterschied mehr.
»Komm zu mir, wie es von Anfang an bestimmt war. Komm zu mir, und ich werde dich befreien von deiner Last. Komm zu mir, und du wirst Frieden finden.«
Er musste es tun; er hatte gar keine andere Wahl. Hierhin hatte der Weg ihn geführt, und nun war er an sein Ende gelangt. Von hier aus gab es kein Zurück mehr.
»Keine Verantwortung mehr. Keine Sorgen. Keine Pflicht. Keine Gedanken. Keine Erinnerung …«
War es nicht das, was er wollte? Endlich frei sein von der Last, die man ihm aufgebürdet hatte, einer Last, die viel zu groß war für einen Einzelnen. Er war nicht zum Helden geboren, er war nur ein kleines Licht in den Stürmen der Welt, das flackerte und bald erlöschen würde.
»Du musst es wollen, aus ganzem Herzen. Du musst es freiwillig tun, sonst wird es dich nicht frei machen. Und du willst doch frei sein …«
Seine Stimme war rau wie die Asche, die die Luft erfüllte.
»Ja, ich will.«
Mit letzter Kraft streifte er sich den Ring vom Finger und legte ihn zitternd in die Hand, die sich ihm darbot. Dankbar sah er auf …
… und blickte in die brennenden Augen des Herrn der Schatten. Da begriff er den furchtbaren Irrtum, dem er unterlegen war, begriff in demselben Augenblick, als ein Flammenstoß ihn hinwegfegte.
»Neiiiin …«
»War da nicht ein Schrei?«
Gilfalas’ Brauen zuckten, als er ruckartig den Kopf wandte. Seine Ohren waren die schärfsten von allen, aber selbst er war sich nicht sicher.
»Ich habe nichts gehört«, brummte Burin.
»Ich auch nicht«, meinte Ithúriël.
»Vielleicht ein Vogel, hoch in den Lüften«, vermutete Fabian. »Es soll hier Adler geben.«
»Nein«, sagte Gilfalas. »Es kam von den Felsen her. Von dort.« Er wies mit dem Finger in die Richtung, wo das Tor bronzefarben zu ihnen herüberglänzte.
Ithúriël, die als Erste ging, kniff die Augen zusammen. »Da ist etwas. Dort, am Fuße des Tores. Es sieht aus wie …«
»… Kim?«, fragte Fabian.
Gilfalas spähte angestrengt zu der Stelle. »Ich sehe nichts.«
»Jetzt ist es wieder weg.«
»Kommt, wir müssen uns eilen.« Geröll löste sich unter seinen Füßen und polterte in einer Lawine zu Ta l.
»Gemach, gemach«, sagte Burin. »Wenn wir hier abgehen, ist keinem geholfen.«
Sie befanden sich auf dem letzten und schwierigsten Stück unterhalb ihres Ziels. Das Tor schien nun schon zum Greifen nahe zu sein, doch jeder Schritt, den sie taten, wollte mit Bedacht gewählt sein. Ithúriël tänzelte leichtfüßig über das schmale Band, das sich zwischen Felswand und Gletscher hinzog, doch Fabians Gesicht war bleich vor Anstrengung, und Burin schien sich mit seinen Fingern förmlich in den Fels zu krallen, als wollte er sich lieber durch das Gestein hindurchgraben, als diesen trügerischen Pfad zu gehen.
»Da!«, rief Ithúriël. »Da ist es wieder.«
Jetzt sah Fabian es auch. »Es ist Kim! Aber«, fuhr er staunend fort, »was ist mit ihm geschehen?«
Die kleine Gestalt, die zusammengekrümmt am Fuße des Tores lag, flackerte wie eine Flamme, die kurz vor dem Erlöschen steht. Mal war sie sichtbar, körperlich und präsent, mal sah man den nackten Fels und das Metall des Tores hindurchschimmern, als sei sie nichts anderes als Rauch und Schatten, eine Illusion, nicht wirklich hier, sondern nur ein Bild in einem dunklen Spiegel.
Ithúriël war die Erste, die den sicheren Fels erreichte und sich auf das Plateau hinaufschwang. Die anderen taten es ihr nach. Doch sie alle gingen wie Traumwandler, als trauten sie dem festen Grund ebenso wenig wie dem Anblick, den sie vor sich sahen.
»Kim?«
Die Gestalt flackerte ins Leben und schlug die Augen auf.
Unendlicher Schmerz lag darin. Schmerz und eine Hoffnungslosigkeit, die alles Begreifen überstieg. »Ich habe ihn verloren.«
Seine Stimme kam wie aus weiter Ferne, dünn und leblos wie ein Echo, das von einer toten Felswand widerhallt.
»Ich wollte ihn in Sicherheit bringen. Ich dachte, in der Untererde, am Ende der Zeit, da sei er sicher … in der Hand des
Weitere Kostenlose Bücher