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Die Herren der Zeit

Die Herren der Zeit

Titel: Die Herren der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut W. Pesch
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einem Gesims. »Ich bin oben!«
    Ein Lichtstrahl, der durch die Wolken brach, erhellte die Stelle, wo er sich befand, und Kim blickte in ein riesiges geschlossenes Auge. Es gehörte zu einem monströsen Mischwesen von Drache und Hund. Kim hatte direkt in seine Lefzen gegriffen.
    Das Auge öffnete sich.
    Kim blieb das Herz stehen. Das Auge starrte ihn an. Unendlicher Hass lag darin. Im nächsten Augenblick würde es ihn wahrnehmen, und das Drachenmaul des Wächters würde sich öffnen und eine Warnung hinausschreien.
    Donner grollte. Ein Blitz erhellte die Nacht. Geblendet kniff der Gargoyle das Auge zu.
    Gedankenschnell hangelte Kim sich weiter, in Richtung der Wand. Reglos verharrte er. Doch der Wächter schien wieder in den steinernen Schlaf versunken zu sein, aus dem er für einen kurzen Moment aufgewacht war. Alles blieb still.
    Kim stieß die angehaltene Luft in einem langen Seufzer aus. Noch zwei Handgriffe, dann war er an dem Gesims, das sich unterhalb des Obergadens entlangzog. Bald hatte er das Fenster erreicht, das sie zuvor erspäht hatten. Es war größer, als es von unten den Anschein gehabt hatte. Ein Fensterflügel war nach außen gekippt und mit einem eisernen Sperrriegel festgestellt worden.
    Beim dritten Versuch schaffte es Kim, den Riegel loszuhaken. Das Gewicht der bleiverglasten Butzenscheibe ließ das Fenster sofort wieder zukippen, und Kim musste sich mit aller Gewalt dagegen stemmen. Mühsam bekam er es so weit auf, dass er erst mit einem Bein, dann mit dem restlichen Körper hindurchschlüpfen konnte.
    »Ich bin drin!«, rief er mit unterdrückter Stimme. »Das war ja ganz einfach!«
    »Sieh zu, ob du eine Tür findest!«, kam Fabians Stimme von draußen.
    Kim blickte nach unten. Von dem Oberlicht des Fensters, an dem er hing, bis hinab zum Fußboden des Raumes waren es sicherlich zehn Ffuß. Er schloss die Augen und ließ los.
    Der Aufprall ließ seine Beine einknicken und raubte ihm fast den Atem. Irgendetwas rutschte unter seinen Füßen weg; er hörte ein Reißen, dann fing er sich wieder. Auf den Boden geduckt, lauschte er in die Dunkelheit.
    Etwas bewegte sich im Raum. Geisterhafte Schatten schwangen hin und her, fingen die Reste des Lichts auf und verschluckten sie wieder. Spinnenhafte Kreaturen schienen darüber hinwegzulaufen. Kim war vor Schrecken wie erstarrt. Doch nichts war zu hören. Er tastete um sich; seine Finger schlossen sich um etwas, das sich wie Papier oder Pergament anfühlte. Das war es offensichtlich gewesen, was ihn beinahe zu Fall gebracht hatte. Er nahm es an sich und stopfte es in den Gürtel, damit es nicht noch mehr Unheil anrichtete.
    Ein Wetterleuchten erhellte die Nacht; für den Bruchteil eines Herzschlags erhellte es den Raum. Plötzlich wurde Kim klar, was die Schatten waren, die ihn umwehten: Es waren Blätter, Blätter überall, die wie Wäschestücke an Leinen zum Trocknen hingen; Blätter mit Schrift darauf, schwarze Buchstaben, die im ungewissen Licht wie Insekten zu krabbeln schienen.
    Als die Augen des Ffolksmanns sich an das Zwielicht gewöhnten, erkannte er noch mehr. Da waren Regale an den Wänden, in denen sich Papier stapelte; Tische mit Kästen, in Fächer unterteilt, in denen es stumpf blinkte wie von Hunderten Metallstücken; und, den ganzen Raum beherrschend, ein riesiges Gestell aus Holz mit Schraubstöcken und Winden, dessen Zweck er nicht erkennen konnte.
    Doch es blieb keine Zeit, seine Neugierde zu befriedigen. Wind rüttelte an den Scheiben. Kim blickte sich um. Zur Rechten führte ein spitzbogiger Durchgang auf einen Korridor, aus dem ein schwaches rötliches Licht drang.
    Kim steckte vorsichtig den Kopf hindurch. Links entlang führte der Gang weiter an einer Reihe verschlossener Türen vorbei; in die Wand eingelassene Laternen schufen eine Art Notbeleuchtung aus matt glühenden Steinen. Rechts führte eine andere Tür, ein Nebenportal, erkennbar an dem Querriegel und dem vergitterten Türlicht, ins Freie.
    Kim hatte Glück. Der Riegel ließ sich geräuschlos beiseiteschieben. Einen Augenblick lang fürchtete er, dass das Portal noch durch ein zusätzliches Schloss gesichert sein könnte, das im Halbdunkel nicht zu erkennen war, oder durch einen Zauber, der ein lautes Geschrei ertönen ließe, wenn jemand es öffnete. Aber nichts dergleichen geschah. Die Tür ging auf.
    »Hierher!«, winkte er.
    Sogleich war Fabian da, den Magister vor sich her schiebend. Selbst in der roten Beleuchtung konnte Kim sehen, wie blass der kleine

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