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Die Herren der Zeit

Die Herren der Zeit

Titel: Die Herren der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut W. Pesch
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nicht mehr rühren konnte. »Wenn ich bitten darf, Magister«, sagte er mit vollendeter Höflichkeit, und zu Kim gewandt: »Geh du voran, damit ich ein Auge auf Magister Queribus halten kann. Wir wollen nicht, dass er uns abhanden kommt.«
    »Wo –?«, setzte Kim an, aber dann sah er es selbst.
    Über den Häuserdächern, vor den dahinjagenden Wolkenfetzen, die vom Licht eines noch tief stehenden Mondes beschienen wurden, ragte die düstere Masse des schwarzen Turmes empor. Eine weitere Orientierung war nicht vonnöten. Kim wusste mit einem Mal, wo er sich befand; immerhin kannte er die Gassen rings um das Historische Seminar wie seine Westentasche. Auch der Weg, den er nun gehen musste, war ihm wohlvertraut, nur dass die Straße nun nicht mehr zum Auditorium Maximum mit seinen Aulen und Lektionarien, dem Offidum Rectorale und den Skriptorien führte, sondern zu jener schwarzen Monstrosität, die sich wie ein Schandfleck über die Dächer von Allathurion erhob – dem Collegium Arcanum.
    Unter dem mitleidlosen Blick der eisigen Sterne, die zwischen den Wolken hervorstachen, überquerten sie das Pflaster des Platzes und tauchten in das Gewirr der Gassen ein. Selbst für Ortskundige war es nicht einfach, im Stockfinstern den Weg zu finden. Nirgends gab es ein Licht; alle Fenster waren dunkel. Kim erinnerte sich, dass einer der Wachen, die nach ihnen gesucht hatten, von ›Sperrstunde‹ gesprochen hatte. Diese schien für die gesamte Bevölkerung zu gelten.
    Irgendwo in der Ferne geisterte rötlicher Fackelschein umher; vermutlich suchte man immer noch nach ihnen – einem Elben, einem Zwerg, einem Menschen und so etwas Ähnlichem wie einem Kind. Zum Glück war die Patrouille weit genug entfernt, dass sie ihnen nicht gefährlich werden konnte.
    Kim musste seine Aufmerksamkeit wieder auf den Weg lenken. Etwas huschte vorbei; er hoffte, dass es keine Ratte war. Die Gassen der Stadt waren nie die saubersten gewesen, und die Trittsteine, die einem bei Tag erlaubten, den gröbsten Unrat zu vermeiden, erwiesen sich bei Nacht als Stolperfallen der übelsten Art.
    So sah er den hohen schwarzen Bau erst wieder, als sie schon unmittelbar davor standen. Er blickte auf. Vor den ziehenden Wolken schien die Fassade des riesigen Turmes sich in einer stetigen Bewegung auf den Betrachter herabzusenken. War das Bauwerk schon bei Tageslicht wie eine einzige schwarze Masse erschienen, so vermochte das matte Licht des Mondes erst recht nicht, irgendwelche Einzelheiten deutlich zu machen. Dennoch glaubte Kim architektonische Formen ausmachen zu können: gemauerte Spitzbögen mit tief gestaffelten Gewänden, Blendgiebel und Wimperge, Strebepfeiler mit Fialen. Doch dort, wo er Krabben und Kriechblumen erwartet hätte, reckten sich die Silhouetten monströser Wasserspeier in den Nachthimmel, mit Fängen und Krallen bewehrt.
    »Das sieht aus wie Elbenwerk«, meinte er. »Aber von einer anderen Art …«
    »Gothisch nennen wir es«, sagte der Magister, der seine Sprache wiedergefunden hatte, »nach einem alten Wort für ›barbarisch‹. Sie haben die Barbarei zur Kunst erhoben.«
    »Wir haben keine Zeit, um über Kunstgeschichte zu disputieren«, zischte Fabian. »Wir müssen einen Weg finden, hineinzukommen.«
    »Das wird euch nicht gelingen«, knurrte Magister Queribus.
    Fabians Blick ging an der Fassade des Gebäudes entlang und empor zu den Obergaden. »Schau!«, sagte er zu Kim. »Da steht ein Fenster offen.«
    Kim hatte es auch gesehen. »Das ist viel zu klein. Wie willst du da durchkommen?«
    »Ich nicht. Aber du vielleicht. Wenn du auf meine Schultern kletterst, kannst du an den Wasserspeiern vorbei über die Mauerzunge das Gesims erreichen.«
    Kim runzelte die Stirn. Der Gedanke, sich im Dunkeln an einem unbekannten und so unheimlichen Gebäude hochzuhangeln, machte ihm Bauchgrimmen.
    »Du weißt, dass ich nicht schwindelfrei bin«, meinte er. Er verzog das Gesicht. »Versuchen wir’s.«
    Fabian ging in die Knie, und Kim stieg auf seine Schultern. Dann richtete Fabian sich auf, und der Ffolksmann, die Hände gegen die Wand gestützt, trat mit den Füßen auf die Schultern des Prinzen.
    »Es reicht nicht«, sagte er. »Du musst mich hochstemmen.«
    Fabian packte Kims Füße und drückte sie nach oben. Seine Arme zitterten leicht, als sie den Endpunkt der Bewegung erreicht hatten. »Reicht das?«, keuchte er gepresst.
    Kims tastende Finger hatten einen Vorsprang erfasst, an dem er sich festhalten konnte. Seine Füße fanden Halt auf

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