Die Herren der Zeit
bestand, von einer Substanz reden konnte, zitterte und wurde kleiner.
Der Schatten zerfloss. Er suchte sich seine Zuflucht in den Ritzen des Gesteins, dort, wo das Licht nicht hinreichte. Dunkelheit drängte zur Dunkelheit hin, floh vor der erbarmungslosen Weite des Himmels in die schützende Enge der Erde, vor dem Lärm und den unbegreiflichen Dingen, die sich an der Oberfläche der Welt taten, hinunter in die Tiefe, wo nichts als Schatten war.
Es war kein bewusstes Handeln dazu vonnöten, nicht einmal ein Instinkt; solche Beweggründe eignen nur höheren Wesen. Der Schatten folgte allein der Notwendigkeit, und seine Flucht würde erst enden, wenn er den Grund aller Dinge erreicht hatte, an einem Ort, an dem es nichts mehr gab als Dunkelheit und Stille.
»Was war das?«, fragte Jadi.
»Der Schatten des Todes«, sagte Kim. Seine Augen blickten starr, als ginge sein Blick weiter, als das sterbliche Auge zu sehen vermag, durch Fels und Stein hindurch bis auf den Grund der Welt. »Er ist uns gefolgt«, fügte er hinzu. »Aber du brauchst jetzt keine Angst mehr zu haben. Er ist fort, und er wird in den Tiefen der Erde bleiben, bis jemand ihn weckt.« Ein Schauder überlief ihn, aber er schien es gar nicht zu bemerken.
»Dann war es kein Traum?«
Kim wandte sich zu ihr um. Sein Blick war wieder klar. »Ob Traum oder nicht, wir sind jetzt hier, und das ist die Wirklichkeit. Und jetzt müssen wir sehen, wohin es weitergeht. Komm.«
Er zog sie mit sich, zu Fabian hinüber/der immer noch dort stand, wo er sich den Angreifern gestellt hatte. Die übrigen Bolg-Menschen, die nicht in die Auseinandersetzung eingegriffen hatten, schienen selbst in den Boden versinken zu wollen, bemüht, so unauffällig wie möglich zu erscheinen. Die Gefangenen standen noch ganz unter dem Bann des Geschehens, als könnten sie es noch gar nicht fassen, dass ihre Peiniger sich in Luft – oder in Schatten – aufgelöst hatten. Keiner sagte ein Wort, doch eine unwillkürliche Bewegung schien die Umstehenden erfasst zu haben; sie hatten sich zu einem Kreis formiert, sorgsam auf Abstand sowohl zu Fabian als auch zu den Felswänden bedacht, als könnte dort im nächsten Augenblick erneut der dunkle Schrecken seine Finger nach jedem ausstrecken, der ihnen zu nahe kam.
Dann nahm einer der Männer einen Speer auf, der zu Boden gefallen war. Seine Geste war eindeutig.
»Tod den Bolgs!«
Fabian, der wie benommen in der Mitte des Kreises gestanden hatte, fand seine Sprache wieder.
»Genug!«, sagte er mit fester Stimme. »Diese Männer haben um Gnade gebeten, und ich gewähre sie ihnen. Sie werden jetzt für mich kämpfen – und für euch. Ihr werdet vielleicht noch einmal dankbar dafür sein; denn der Weg, der vor uns liegt, ist lang und gefährlich.«
Der Wortführer der Menschen murrte, aber als er um sich blickte und sah, dass die anderen ihm nicht zu folgen bereit waren, ließ er den Speer wieder sinken.
»Und wohin soll es gehen?«
Fabian lächelte. Und als er die Hand hob, gewappnet nur mit dem Ring der Macht, doch für den Augenblick bar aller Magie, da bedurfte es keiner Krone und keiner prunkvollen Gewänder, um deutlich zu machen, dass hier ein König vor ihnen stand.
»Dorthin«, rief er. »Nach Süden.«
Kims Blick folgte dem Fingerzeig. Keine hundert Schritt vor ihnen, hinter einer Biegung des Felsens, gabelte sich der Weg. Die eine Route führte weiter nach Osten, die andere jedoch nach Süden, wo sich eine hohe gemauerte Brücke über die Talschlucht spannte.
Wieder einmal wunderte sich Kim über die seltsamen Fügungen des Schicksals. Denn wären sein Freund und er, als sie aus dem finsteren Tal die Schlucht des Ander erreichten, nur ein kurzes Stück in die andere Richtung gegangen, hätten sie unweigerlich die Brücke gesehen und wären ihr gefolgt. Und die Menschen, die nun als Befreite zu ihnen aufsahen, wären unter der Peitsche der Bolgs in die dunklen Höhlen unter dem Berg gezogen, um niemals mehr das Tageslicht zu erblicken.
Die Schatten aber, die auf dem Feld der Toten geboren waren, hätten sie weiter durch die steinige Öde verfolgt, getrieben von dem Drang, ihren Teil vom Leben zu erlangen. Näher und näher wären sie ihnen gerückt, während die Freunde, von Durst und Hunger geschwächt, mit jedem Schritt dem Tode ein Stück entgegengekommen wären. Vielleicht hätten sie sich irgendwann einmal getroffen, an der Schwelle zwischen Tod und Leben, und dann hätte sich die Hand des Schattens kalt um ihr eigenes
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