Die Herren des Nordens
Ketten. Er war groß, muskulös, sehr gutaussehend, in Lumpen gehüllt
und ungefähr so alt wie ich. Sein langes gelocktes Haar war so goldfarben, dass es fast weiß wirkte. Seine Wimpern waren farblos,
seine Augen tiefblau, und seine gebräunte Haut zeigte mit keiner Spur, dass er schon eine Krankheit zu überstehen gehabt hätte.
Sein Gesicht hätte aus Stein gemeißelt sein können, so stark geformt waren seine Wangenknochen, seine Nase und sein Kinn,
doch die Härte der Gesichtszüge wurde durch einen fröhlichen Ausdruck gemildert, der vermuten ließ, dass er im Leben ständig
neue Überraschungen und |64| Vergnügungen fand. Als er Sven neben den Hufen meines Pferdes kauern sah, rannte er von den singenden Priestern zu uns und
bückte sich auf dem Weg nur einmal, um das Schwert des Mannes aufzuheben, den ich getötet hatte. Er hielt die Waffe ungeschickt,
denn seine Hände waren durch eine metallene Kette miteinander verbunden, dennoch trug er es bis zu Sven und ließ es dann über
seinem Nacken schweben.
«Nein», sagte ich.
«Nein?» Der junge Mann lächelte zu mir hoch, und ich mochte ihn sofort. Seine Miene war offen und arglos.
«Ich habe ihm versprochen, ihn am Leben zu lassen», sagte ich.
Er überlegte kurz. «Das habt Ihr», sagte er dann, «aber ich nicht.» Er sprach dänisch.
«Aber wenn Ihr ihm das Leben nehmt», sagte ich, «dann muss ich Euch Eures nehmen.»
Der Schalk blitzte aus seinen Augen, als er über meine Worte nachdachte. «Warum?», fragte er und war keineswegs erschrocken,
sondern schien es einfach nur wissen zu wollen.
«Weil so das Gesetz ist», sagte ich.
«Aber Sven Kjartanson kennt kein Gesetz», gab er mir zu bedenken.
«Es ist mein Gesetz», sagte ich, «und ich will, dass er seinem Vater eine Nachricht überbringt.»
«Welche Nachricht?»
«Dass der Totenkrieger mit dem Schwert gekommen ist, um ihn zu holen.»
Der junge Mann legte den Kopf zur Seite und ließ sich die Nachricht durch den Sinn gehen. Schließlich schien er sie gutzuheißen,
denn er klemmte das Schwert unter einen Arm und knotete dann unbeholfen seinen Hosengürtel auf. |65| «Von mir kannst du auch eine Nachricht überbringen», sagte er zu Sven, «und hier ist sie.» Er pisste auf Sven. «Ich taufe
dich», sagte der junge Mann, «im Namen Thors und Odins und Lokis.»
Die sieben Geistlichen, es waren drei Mönche und vier Priester, betrachteten diese Taufe mit ernsten Mienen, doch keiner von
ihnen erhob Einspruch gegen diese Gotteslästerung oder versuchte sie zu verhindern. Der junge Mann pisste ziemlich lange und
zielte mit seinem Strahl auf Svens Haar, das er vollkommen durchnässte, und als er endlich fertig war, band er seinen Gürtel
wieder fest und lächelte mich erneut an. «Und Ihr seid also der Totenkrieger mit dem Schwert?»
«So ist es», sagte ich.
«Hör auf zu heulen», befahl er Sven und lächelte mir dann wieder zu. «In diesem Fall werdet Ihr mir vielleicht die Ehre erweisen,
mir zu dienen?»
«Euch zu dienen?», fragte ich. Jetzt war ich an der Reihe, mich zu belustigen.
«Ich bin Guthred», sagte er, als ob das alles erklärte.
«Von Guthrum habe ich schon gehört», sagte ich, «und ich kenne auch einen Guthwere und habe zwei Männer getroffen, die Guthlac
heißen, aber von einem Guthred weiß ich nichts.»
«Ich bin Guthred, der Sohn Hardnicuts», sagte er.
Auch dieser Name sagte mir nichts. «Und warum sollte ich Euch dienen, Guthred, Sohn von Hardnicut?»
«Weil ich ein Sklave war, bis Ihr kamt», sagte er, «aber jetzt … nun, weil Ihr kamt, bin ich jetzt ein König!» Er sprach mit solcher Leidenschaft, dass er sich kaum recht ausdrücken konnte.
Ich lächelte unter dem Leinenschal. «Ihr seid ein König», sagte ich, «aber wovon?»
|66| «Von Northumbrien natürlich», antwortete er strahlend.
«Das ist er, Herr, das ist er wirklich», bemerkte einer der Priester ganz ernsthaft.
Und so lernte der Totenkrieger mit dem Schwert den Sklavenkönig kennen, und Sven der Einäugige kroch zu seinem Vater, und
all die Seltsamkeiten, die sich in Northumbrien ausgebreitet hatten, wurden noch seltsamer.
|67| ZWEI
Manchmal hat man auf See, wenn sich das Schiff zu weit vom Land entfernt hat, der Wind auffrischt, die Gezeiten das Boot mit
unwiderstehlichen Kräften mitziehen und die Wellen mit weißer Gischt über den Schildpflöcken zerschellen, keine andere Wahl,
als dahin zu gehen, wohin einen die Götter schicken. Das Segel muss
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