Die Herrin der Kathedrale
achtzehnten Lebensjahr stehen.
Bevor sie die Gästezelle verließen, hielt Uta Arnold am Ärmel fest und meinte: »Ich danke Euch für all Eure Mühen.« Arnold lächelte.
»Nun folgt mir, bitte.« Sie zögerte. »Nein, ich folge Euch.« Sie überprüfte den Sitz ihrer Kapuze und begab sich dann hinter Arnold in den Speisesaal.
Eine Sanctimoniale, die Uta ebenso wenig von früher kannte wie die Pförtnerin, wies ihnen einen Platz am Gästetisch zu, der am unteren Ende der Tafel aufgestellt worden war. Bereits an ein Dutzend edel gekleideter Gäste hatte dort Platz genommen. Uta und Arnold ließen sich auf den letzten freien Hockern nieder. Vor Aufregung drehte Uta das Kräutersäcklein, das Erna ihr für Arnold mitgegeben hatte und das am Gürtel ihres Kleides hing, unentwegt zwischen ihren Fingern. Nachdem die Glocken der Stiftskirche das Ende des Abendgebets eingeläutet hatten, betraten die Gernroder Sanctimonialen und Schwestern den Speisesaal. Die meisten waren in farbenfrohe Gewänder gekleidet und trugen noch die gleiche Art von Flechtfrisuren wie einst. Uta zählte lediglich vier Frauen, die noch den Schleier und das schwarzweiße Gewand trugen, wie es unter Äbtissin Hathui Pflicht gewesen war. Während unter den Sanctimonialen leises Getuschel einsetzte, nahmen die verschleierten Schwestern schweigend um Schwester Edda herum Platz. Zu Utas Bestürzung schien Hazecha nicht unter ihnen zu sein. Was mochte der Schwester Schreckliches passiert sein? Auch Alwine konnte sie nirgendwo entdecken.
Eine hochgewachsene Schwester stieg auf das Vorlesepult gegenüber dem Gästetisch, schlug die Institutio Sanctimonialium auf und tonierte: »Jetzt haben wir zu den Jungfrauen zu sprechen, für die wir umso größere Sorge hegen, je erhabener ihr Ruhm ist. Sie sind die Blüte am Stamm der Kirche, die Zierde und der Schmuck der geistlichen Gnade, die erfreuliche Begabung, das reine und unversehrte Werk des Ruhmes und der Ehre, das der Heiligkeit des Herrn entsprechende Ebenbild Gottes, der erlauchteste Teil der Herde Christi.« 24
»Ihrer erfreut sich«, sprach Uta die Worte aus der Erinnerung leise weiter, und es kam ihr so vor, als habe sie die Sätze erst gestern das letzte Mal gehört. »In ihnen erblüht üppig der ruhmreiche Schoß der Mutter Kirche; und je mehr die Schar der Jungfrauen an Zahl zunimmt, desto größer wird die Freude der Mutter.« Nachdem die Vorleserin auch den zweiten Absatz beendet hatte, wurden die Speisen aufgetragen. Zuerst erhielten die Gäste Fisch und Gemüse, danach wurden die Schalen der Schwestern gefüllt.
Aufgewühlt nagte Uta an einem Stück Forelle, das Arnold ihr auf eine Scheibe Brot gelegt hatte, und gab eine Portion Kräuter aus Ernas Säcklein in Arnolds Becher. Ihr Blick streifte die vier Verschleierten. Es sah ganz so aus, als ob eine von ihnen mit einem Essverbot belegt worden war und nur Wasser zu sich nehmen durfte. Erschrocken fuhr Uta auf. Die Art wie die Schwester nach dem Becher gegriffen hatte! Das war Hazecha! Nur um einiges älter als Uta sie in Erinnerung behalten hatte. Ihre Gesichtszüge hatten ihre Kindlichkeit verloren, die Schwester war zu einer jungen Dame herangereift.
Die Gäste neben ihnen blickten vom Essen auf. Auch Schwester Edda kam nun zu ihr hinübergeeilt. »Ist Euch nicht gut, Frau?«, fragte sie besorgt.
Uta senkte den Kopf, weil sie Aufmerksamkeit um jeden Preis vermeiden musste. Zu groß war das Risiko, dass jemand sie erkannte und als Gattin Ekkehards von Naumburg ansprach – zuletzt waren so viele Pilger und Pilgerinnen auf die Baustelle gekommen.
»Es ist schon wieder gut, Frau«, sprang Arnold ein. Dann erklärte er Schwester Edda und den Gästen neben ihnen: »Es war nur eine Fischgräte. Ihr Magen hat so seine Mühe mit Fischigem.«
Beruhigt ließ Edda sich wieder an der Tafel nieder, und auch die Gäste wandten sich nach und nach wieder ihren Gesprächen zu, so dass Uta aufatmen konnte. Dankbar nickte sie Arnold zu, aber schon ihr nächster Blick galt wieder Hazecha, die sie in ihrer Hast auf den ersten Blick nicht sofort erkannt hatte. Doch jetzt war sie mit ihr im selben Saal. In Fleisch und Blut. Am liebsten wäre Uta auf Hazecha zugestürmt, um sie fest zu umarmen. Doch sie bezwang den Impuls und flüsterte Arnold stattdessen nur zu: »Sie lebt, und ich muss zu ihr. In die Krankenkammer.«
Uta überlegte nur kurz, dann zog sie sich ihre Kapuze erneut tief ins Gesicht – und sprang ein zweites Mal erschrocken auf. Die Augen
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