Die Herrin der Kathedrale
feuchten Boden sinken. Der Anblick des knienden Skeletts, das Wissen um Esikos Schändung, das verkommene Heim und ihre Erschöpfung im Kampf um Gerechtigkeit hatten ihr alle Kraft geraubt.
Da legten sich von hinten zwei Arme um sie. »Wein dich aus«, sprach eine rauhe, tiefe Stimme. Zärtlich hob er sie hoch und trug sie hinter den Schuppen, wo ein Feuer knisterte. Kraftlos, wie sie war, ließ sie es geschehen.
Am Feuer setzte er sie auf einen gefällten Baumstamm, ließ sich neben ihr nieder und streichelte ihr mit der Hand über Kopf, Schultern und Rücken. Unter seinen Berührungen ging ihr Weinen in ein Schluchzen über. Als es beinahe ganz verstummt war, wiegte er sie in seinen Armen.
»Ich bewundere dich, Uta von Ballenstedt«, sagte Hermann und strich ihr durch das offene Haar, das einzig an der rechten Seite noch von der grünen Spange gehalten wurde. »Ich bewundere dich, seit ich dir das erste Mal begegnet bin.« Er glaubte einen Hauch von Gänseblümchen zu riechen.
Die vertraute Anrede gab Uta das Gefühl von Geborgenheit. Ohne auch nur eine einzige Handbreit Abstand zwischen ihnen zuzulassen, schaute sie mit verweinten Augen zu ihm auf. Sein Haar war zu dieser späten Stunde schon etwas wirr, und im Schein des Feuers glaubte sie, die hellbraunen Punkte in seinen Augen tanzen zu sehen. All die Sanftheit in seinem Gesicht, die leicht gebogene Nase, die Fältchen um seine Augen und die Bartstoppeln, beruhigten sie auf eine ihr bisher unbekannte Weise.
»Du bist mutig, neugierig, klug und gleichermaßen bezaubernd«, fuhr er fort, während seine Hand wieder über ihren Rücken strich. »Die Anklage vor dem Kaisergericht wird dir gelingen.«
Uta löste sich aus seiner Umarmung. »Die Mutter hat es verdient, dass ich ihr zur Gerechtigkeit verhelfe«, sagte sie nach einem Moment der Stille. Dann ließ sie den Kopf an seine Schulter sinken. »Sie liebte Narzissen«, fügte sie hinzu.
»Du wirst es schaffen, für Gerechtigkeit zu sorgen«, sagte Hermann, während er Uta wieder im Arm wiegte.
Sie fühlte sich unendlich geborgen. »Ihr seid mein Beschützer, Hermann von Naumburg.« Er war es schon damals, dachte sie, im Buchenforst von Burg Ballenstedt, im Schlamm in den Alpen. Dann in Rom im Krankenhaus und schließlich beim Bau der Kathedrale. Kein anderer als er hätte sich getraut, einer Frau die Arbeit am Reißbrett oder die Anwerbung von Handwerkern zu übertragen.
Gedankenversunken hielt Hermann in seiner Streichelbewegung inne. »Ich bringe dir nur Unglück«, sagte er plötzlich mit veränderter Stimme und schob sie vorsichtig von sich.
»Verzeih!« Er erhob sich und trat vor das knisternde Feuer.
Irritiert meinte Uta: »Was soll ich Euch verzeihen?«
»Was du mir verzeihen sollst?«, fragte er, während er scheinbar geistesabwesend ins Feuer starrte. Er war verwirrt und konnte nicht mehr beurteilen, was richtig oder falsch, was tödlich und was erfüllend war. Er drehte sich wieder zu Uta um, und sie fühlte, wie sein Blick ihr Gesicht streichelte.
Sie erhob sich und trat vor ihn.
»Dass ich dir zugetan bin«, sagte er und konnte nicht anders, als seine Lippen auf die ihren zu drücken.
Zaghaft erwiderte Uta seinen Kuss, genoss seine Zärtlichkeiten und seine Wärme. Es war ihr erster Kuss und sie wollte nicht, dass er endete. Sie fühlte sich wie in einem Kokon, in dem all das Leid der vergangenen Tage keinen Platz fand. Berauscht löste Hermann die Lippen von ihren und nahm ihren Kopf zwischen seine Hände. Glücklich und voller Verlangen betrachtete er ihre feinen Gesichtszüge: die geschwungenen Brauen, die wundervollen Augen mit den unendlich langen Wimpern, die zierliche Nase mit ihrem kräftigen Rücken und den kleinen Mund mit den vollen Lippen. Niemals würde er genug davon bekommen können.
»Warum hast du deinem Bruder damals den Vortritt gelassen?«, fragte Uta zaghaft. Ganz selbstverständlich war auch ihr nun die vertraute Anrede über die Lippen gekommen. Widerstrebend ließ Hermann ihren Kopf los und blickte betreten zu Boden.
»Verzeih, wenn ich …«, wollte Uta ihre Frage zurücknehmen. Doch Hermann schüttelte den Kopf, zog sie mit dem Rücken vor seine Brust und legte von hinten seine Arme um sie. Gemeinsam blickten sie in das Feuer, während er sprach: »Es begann mit Reglindis. Sie war jung, fröhlich und gesund.« Er räusperte sich, weil er noch nie jemandem zuvor von seiner Angst erzählt hatte.
Uta erinnerte sich, dass der Vogt ihr bei der Einführung in den
Weitere Kostenlose Bücher